Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
einzelnen Reiter und zwei dicht hintereinander herschaukelnde Wagen mit hellen Planen.
Paul Holzapfel schob seinen Hut ein wenig aus der Stirn. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
Die Gruppe war nicht lange auf dem Höhenzug zu sehen gewesen, gewiss nicht länger, als es dauerte, eine Muskete zu laden, abzufeuern und wieder schussbereit zu machen. Diese Zeitspanne hatte jedoch genügt, Holzapfels Argwohn zu wecken. Er sah rasch noch einmal zu dem Tross, ehe er sein Pferd nach Süden lenkte und zu einem derart schnellen Galopp zwang wie seit dem letzten Ritt zu Lorathot nicht mehr. Womöglich bedeutete es verschwendete Mühe, aber er wollte sich Gewissheit verschaffen – irgendetwas sagte ihm, dass er sich besser ein genaues Bild von der Sache machen sollte.
Er folgte einem schmalen Flusslauf, durchquerte einen Rottannenwald und preschte nicht mehr nur über erdigen Boden, sondern auch über felsigen Untergrund. Es war nicht sonderlich heiß, dennoch geriet er rasch ins Schwitzen. Im zerklüfteten Gelände verlor er die Orientierung, fand sich jedoch schnell wieder zurecht. Er glaubte bereits, die kleine Gruppe Reisender hätte die Richtung gewechselt, dann sah er sie, ganz plötzlich. Er versteckte sein Pferd am Fuß einer eisengrauen Granitwand und schlich sich vorsichtig durchs Unterholz.
Lautlos suchte er hinter Büschen Deckung. Er war den Reisenden so nahe gekommen, dass er ihre Gesichter erkennen konnte. Ein Reiter auf einem Esel war ihm fremd, auch der Anblick eines Mannes, dessen schlichte Kleidung ihn als Bauern oder Hofgehilfen auswies, kam ihm völlig unbekannt vor.
Mit einem Mal breitete sich Fassungslosigkeit in ihm aus. Eine Verblüffung, die er nicht von sich kannte, war er doch ansonsten durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Tatsächlich, da war die Frau mit dem langen hellen Haar, die er in Freiburg gesehen hatte. Und Nils Norby, der Schwede, dem es anscheinend immer wieder gelang, dem Tod von der Schippe zu springen.
Der Blick des heimlichen Beobachters blieb an dem Ältesten hängen, und er musste unwillkürlich an Fehler denken, an Nachlässigkeiten. Daran, dass mancher Fehler bitter bestraft wurde. Sogar mit dem Tod. Franz von Lorathot jedenfalls war jemand, der keinerlei Schlampereien duldete.
Völlig unerwartet fiel ihm in diesem Moment der Traum von letzter Nacht ein. Die nicht zu hörenden Schreie und das weinende Gesicht seiner Frau.
Er schüttelte das Bild ab, machte sich frei davon. Er fasste sich. Es gab auch Fehler, die bereinigt, die ungeschehen gemacht werden konnten. Noch hatte er eine Chance. Er zog sich zurück zu seinem Pferd und saß auf. Er musste sich beeilen.
*
Aus der allmählichen, fast zögerlich anbrechenden Dunkelheit löste sich die breite Gestalt Hermann Lottingers. Er hatte die erste Wache übernommen und war gerade von Ferdinand abgelöst worden. Jetzt setzte er sich zu Bernina, Nils, Alwine und Mentiri, die sich mit Brot und Dörrfleisch stärkten. Es war ihre erste Rast überhaupt. Ein Feuer entfachten sie nicht. Mentiri hatte sich entschieden dagegen ausgesprochen, er wollte weiterhin so unauffällig wie möglich den Weg fortsetzen. Als er sich nun schwerfällig erhob, ertönte das leise Keuchen, das ihn inzwischen fast ohne Unterlass begleitete. Vom Wagen holte er einen ledernen Trinkschlauch, um sich mit dem Wasser darin den Schweiß vom Gesicht zu waschen.
Norby trat an ihn heran. Seit sie gemeinsam losgefahren waren, hatten der Schwede und Mentiri keinen einzigen Ton, nicht einmal einen Blick miteinander gewechselt.
»Herr Norby, was möchten Sie von mir? Ich nehme an, endlich ein Wort des Dankes, oder?« Mentiri verstaute den Trinkschlauch auf dem Wagen. »Verzeihen Sie es einem alten Mann, dass er ab und an die guten Sitten vergisst. Aber ich werde Ihnen und Ihren beiden Freunde noch angemessen danken. Gleich im Anschluss an diese Reise.«
Norby grinste. »Nicht nötig. Ich tue das nicht für Sie. Sondern für Bernina.«
»Das ist mir durchaus bewusst.« Er hielt ihm die Hand hin. »Herr Norby, nehmen Sie bitte mein Ehrenwort und meinen Handschlag als Zeichen dafür, dass ich keine falschen Spielchen spiele. Ich hege keinerlei niederträchtige Absichten. Nur bin ich im Moment, wie Sie sehen, auf Hilfe angewiesen.«
Ein paar Nachtvögel schrien auf, der Himmel marmorierte sich weiter mit dunklen Flecken.
Ohne ein Wort zu erwidern, schüttelte der Schwede die Hand.
»Sehr gut, Herr Norby. Ihre Unterstützung weiß ich mehr
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