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Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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vernünftigen Satz fähig gewesen. Diese Furcht machte jedoch klar, dass der Mann nicht lügen würde. Die Frau und der Gnom, erklärte er, wären zwar noch Gast des Hauses – allerdings offensichtlich verschwunden.
    Nils Norby ließ nicht von ihm ab. Der Wirt stammelte weiter, erzählte etwas von einer Hure, was für Norby keinerlei Sinn ergab. Was sollte Bernina mit einer Hure zu schaffen haben? Aber der Mann beharrte darauf, nannte den Namen Alwine und schilderte schließlich den Weg hierher. Ohne zu wissen, wie viel von dem Geschwätz der Wahrheit und wie viel der Todesangst geschuldet war, hatte sich Norby schließlich davongemacht, zurück in die Schwärze der Nacht, zurück in das Straßengewirr der Stadt.
    Viel Zeit war vergangen. Am Stand des Mondes erkannte er, dass es bald dämmern würde. Es war eine Nacht, die ihm alles abverlangte. Die Ungewissheit darüber, was mit Bernina geschehen war, setzte Norby weit mehr zu als die Anstrengungen der letzten Zeit. Seine Verletzungen, die nicht heilen konnten, sorgten für einen ständigen Schmerz, für ein schwelendes Fieber. Er fühlte seine Kräfte schwinden, noch mehr als zuletzt. Das Einzige, womit er seinen Körper vorwärtsdrängte, war der Gedanke an Bernina. Ja, die guten Jahre hatten sie nicht genügend zu schätzen gewusst. Und jetzt? Alles verloren? Wieder dieser bittere Geschmack in seinem Mund.
    Das musste es sein, dieses armselige Haus dort hinten. Ausgerechnet hier sollte sich eine Spur von Bernina finden? Schiefe Wände, schadhaftes Dach, Unrat, wohin er sah. Eine Hure namens Alwine. Mehr hatte er einfach nicht …
    Die Tür war angelehnt. Norby glitt hindurch. Er horchte ins Nichts. Sein Gefühl sagte ihm, dass er allein war, aber er ermahnte sich, nicht unvorsichtig zu werden. In fast völliger Dunkelheit überprüfte er die Räume im Erdgeschoss.
    Tatsächlich – niemand. Niemand außer ihm.
    Er stolperte beinahe über eine bauchige Weinflasche, stieß gegen einen Stuhl, ehe er ein Talglicht fand und entzündete. Eine offenkundig willkürlich zusammengestellte Einrichtung. Voneinander nur durch Stoffvorhänge abgetrennt Bettstellen. Aus seiner Zeit als Soldat kannte Norby derartige Behausungen. Der Wirt hatte in dem Punkt also nicht gelogen. Ein Hurenhaus. Darüber konnten auch die beiden verstaubten Spinnräder nicht hinwegtäuschen.
    In einem der Zimmer war es zweifellos zu einer Auseinandersetzung, zu einem Kampf gekommen. Blutspritzer, umgeworfene Stühle – und zerschnittene Riemen, die anscheinend als Fesseln verwendet worden waren.
    Vorhin hatte er noch gehofft, hier auf einen Hinweis seiner Frau zu stoßen – war es etwa besser, sich das Gegenteil zu wünschen? Was mochte hier vorgefallen sein? Konnte das alles in irgendeinem Zusammenhang mit Bernina stehen?
    Das Talglicht vor sich hertragend, überwand Norby die Stufen, die mit Straßenschmutz und eingetrockneten Lachen von Wein und Bier überzogen waren. Auch hier oben: spärliche, alte Einrichtungsgegenstände. Dicke Wollmäuse und Spinnweben. Eines der Zimmer war etwas größer. Darin stand ein Doppelbett, ähnlich jenem, das es im Schlafzimmer des Petersthal-Hofes gab.
    Ja, verloren, für immer verloren.
    Norby stellte das Talglicht auf dem Boden ab und setzte sich auf das Bett. Er roch die ungewaschenen Decken, den Schweiß der Leute, die darin geschlafen hatten.
    In diesen vier Wänden würde er keine Spur von Bernina finden, sagte er sich, nie und nimmer. Plötzlich überkam ihn eine unerbittliche Niedergeschlagenheit. Die Fußsohlen noch auf dem Boden, ließ er sich zurückfallen, sein Hinterkopf sank in den schmutzigen Deckenstoff. Er wehrte sich dagegen, doch ihm fielen die Augen zu.
    »Bernina«, flüsterte er.
    Auf einmal glaubte er, Worte aus ihrem Mund zu hören, liebevolle Worte, er glaubte, ihre Hand zu fühlen, ihre Haut, weich wie samtener Stoff. Doch rasch veränderte sich der Klang ihrer Stimme, wurde zu einem leisen Krächzen, wie das einer Krähe, die ihm flüsternd etwas einzuschärfen versuchte. So schwer seine Lider, so angenehm das Gefühl in seinem Rücken, der sich in die mit Stroh gefüllte Matratze drückte.
    Schlafen, einfach nur schlafen. Endlich zur Ruhe kommen, endlich keine Bewegung mehr, endlich kein Denken mehr. Nein, nicht die geringste Spur von Bernina, alles verloren, verloren für immer …

Kapitel 5
Das Erzittern der Welt
     
    Kein Geräusch, nicht der geringste Laut. Eine Stille, die unwirklich erschien, die etwas geradezu Tosendes besaß,

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