Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
der Kanonen übertönt. Das Wummern der Einschläge, die Schüsse aus Musketen, das Trommeln von Stiefelsohlen, gebrüllte Anweisungen. Bernina und Baldus hatten sich gerade wieder im Innern des Hauses in Sicherheit gebracht, als eine Einheit Soldaten die Straße entlangrannte, abgekämpfte, verdreckte Gesichter, aus denen müde Augen den kommenden Schrecken entgegenstarrten.
Ein neuer Tag des Krieges, ein neues Aufflammen der Furcht. Schon an mehreren Stellen war die Stadtmauer beschädigt worden, es wurde zusehends heftiger und verzweifelter gefochten. Fast unablässig bezogen Bernina, Nils und Baldus Posten an den Fenstern, höchste Wachsamkeit war geboten, denn nicht nur Soldaten, sondern auch etliche Diebe und Gauner machten sich auf, um das Wüten des großen Ungeheuers für eigene Zwecke auszunutzen und schutzlose Leute auszurauben.
In den Sekunden, wenn das Toben des Gefechtes einmal abnahm, entstand Bewegung auf den Straßen. Menschen rannten hierhin, hetzten dorthin, auf der Suche nach verschwundenen Freunden und Verwandten, auch nach Essbarem, auf der Jagd nach Tieren und deren Fleisch. Je länger ein Ort belagert wurde, desto schlimmer wurde es – überall in Freiburg wusste man das, teils aus eigenen Erfahrungen, teils aus Erzählungen von Durchreisenden und Bekannten. Irgendwann würden sogar Mäuse über Herdfeuern geröstet werden.
In dem von außen unauffälligen Fachwerkbau, versteckt in den Gassen, waren bereits jetzt die Vorräte zur Neige gegangen. Die Reste, die sie in von Mollenhauers Küche gefunden hatten, waren allzu spärlich gewesen: Bis auf ein wenig Brühe, die für den hin und wieder aufwachenden Soldaten zurückbehalten wurde, gab es nichts mehr. Als Nils sich dafür entschied, die Herberge aufzusuchen, in der Bernina etwas Proviant zurückgelassen hatte, widersprach sie sofort: »Nein, Nils, bitte nicht. Diese Stadt ist voller Gefahren. Lass uns erst noch abwarten. Ich will nicht, dass du gehst.«
»Ich will es auch nicht – dennoch muss es getan werden.«
»Wir hätten uns fast für immer verloren«, redete sie eindringlich weiter auf ihn ein. »Riskier bitte nicht, dass das doch noch eintrifft. Nur wegen ein paar Räucherwürsten und Hartbrot.«
»Bernina, wir müssen etwas essen. Lass es mich wenigstens versuchen.«
»Bestimmt hat man unsere Stube längst durchwühlt. Die Aussicht, noch etwas zu finden … «
»Ich muss gehen«, schnitt er ihr das Wort ab. »Ich muss einfach.«
Bernina presste ihre Lippen aufeinander. Sie drückte sich an ihn. »Ich weiß«, flüsterte sie. Und sie fügte an: »Wenn du in der Herberge bist … «
»Ja?«
In knappen Worten erklärte sie ihm, dass sie dort nicht nur eine Notration, sondern auch etwas Geld versteckt hatte.
»Siehst du, dass es besser ist, wenn ich mich dort einmal umschaue? Wir haben außerdem ein Pferd bei der Herberge untergebracht. Und den Wagen.«
»Gib auf dich acht«, wisperte Bernina nur, doch er hörte es gar nicht mehr, griff bereits nach dem Degen, die Stirn gerunzelt, die Gedanken auf den Weg gerichtet, der ihn erwartete.
Bernina sah nicht zu, wie Nils nach draußen ging. In dem Moment, als er das Haus verließ, war sie schon wieder an der Seite des verletzten Soldaten, der die Augen aufriss und mit schwacher Stimme um Wasser bat. Nachdem Bernina ihm zu trinken gegeben und den Schweiß von seinem Gesicht gewischt hatte, sank er erneut in den Schlaf. Es war schwer zu ertragen, dass sie ihm nicht besser helfen konnte. Mit stumpfer Hilflosigkeit wechselte sie von Neuem den Verband.
Gleich darauf fand sie sich an der Seite von Baldus wieder. Ohne ein Wort miteinander zu sprechen, verfolgten sie, wie zwei ungefähr 15-jährige Jungen auf der Straße vor dem Haus auftauchten, vorsichtig, auf bloßen Sohlen, Holzkeulen in den Händen. Sie schlichen auf die toten Soldaten zu, deren Körper im stärker werdenden Sonnenlicht aufquollen. Dann waren sie auf einmal blitzschnell: kräftige Hiebe mit den Keulen, das Kreischen der Ratten, von denen vier erschlagen auf dem Pflaster lagen. Die Jungen nahmen die toten Tiere an den langen Schwänzen und trugen sie zufrieden davon. Gleich darauf kam es zu einem so nahen Einschlag einer Kanonenkugel, dass die Wände des Hauses erbebten.
Unterdessen war Nils ein gutes Stück vorangekommen, obwohl er sich vorsichtig fortbewegte und immer wieder innehielt, um die Lage zu prüfen. Zweimal war er kleineren Soldatentrupps ausgewichen – es war besser, unsichtbar zu bleiben. An der
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