Die Entscheidung liegt bei dir!
Viele »Opfer-Storys« sind nichts anderes als der Versuch, die Verantwortung abzuschieben: auf den Finanzminister, auf das Wetter, auf die Kollegen oder den Verkehrsstau.
Dies konsequent zu Ende gedacht hieße: Wenn ein Verkehrsstau ist,
müssen
wir zu spät kommen. Unausweichlich. Alle. Wenn es schneit,
müssen
wir im Straßengraben landen. Kein Entrinnen! Und wenn die Steuergesetze so sind, wie sie sind, dann
müssen
wir Scheinfirmen gründen und unser Konto in die Schweiz verlegen.
Und ein letztes Beispiel: Dass intensives Rauchen unserer Gesundheit schadet, ist allseits bekannt. Nun stellen sich viele auf die Seite der Moral, klagen die Tabakindustrie an und schwingen sich zum Retter auf. Mit erhobenem Zeigefinger maßen sie sich an, von den »Opfern« dazu berechtigt worden zu sein. Aber auch auf die Gefahr hin, viele Wohlmeinende zu verprellen:
Zigarettentabak verursacht keinen Krebs
. Tabak ist eine Pflanze. Und eine Zigarette ist völlig willenlos.
Menschen
verursachen Krebs, indem sie Zigaretten rauchen.
Sie seien verführt worden? Sie hätten nicht widerstehen können? Es hat etwas Durchschauendes, wenn der französische Schriftsteller Manès Sperber diese Gewissheit vertritt: »Niemand und nichts kann einen verführen, der nicht das Bedürfnis, ja den dringlichen Wunsch hegt, verführt zu werden.«
Jargon der Ohn-Macht
Das Telefonat dauert Ihnen schon viel zu lange. Ein wichtiger Termin wartet. Er brennt Ihnen auf den Nägeln. Sie werden |51| ihn kaum noch einhalten können … Da ziehen Sie die Notbremse: »Ich muss jetzt leider aufhören!« Es fallen ein paar hektische Abschiedsfloskeln; endlich sind Sie den ungelegenen Anrufer los.
Dass Sie das Telefonat gar nicht erst hätten annehmen sollen (»… aber vielleicht war es ja etwas Wichtiges!«), dass Sie es sofort beenden und mit dem Anrufer einen günstigeren Gesprächstermin hätten vereinbaren können (»… aber ich wollte ihn nicht kränken!«), dass das »leider« wahrscheinlich glatt gelogen war (»… aber es klingt doch besser!«) – das will ich hier nicht weiter vertiefen. Viel wichtiger ist: Sie haben gesagt »Ich
muss
…« statt »Ich will …«. Sie haben sich kleingemacht. Sie haben sich als Opfer ausgegeben und hoffen dadurch auf Preisnachlass. Und Sie unterschlagen Ihre Verantwortung. Schon Lessings Nathan, der ja bekanntlich weise war, sagte:
»Kein Mensch muss müssen.«
Schließlich
wollten
Sie das Gespräch doch beenden. Niemand hat Sie dazu gezwungen. Sie
wollten
Ihren Termin einhalten. Viel aufrechter ist es deshalb, freundlich und in aller Klarheit zu sagen: »Ich
will
das Gespräch jetzt beenden.« Wem das zu brüsk ist, kann das »will« durch »möchte« ersetzen und ergänzen: »… weil ich nicht zu spät kommen
will
.«
Es gibt eine sehr alte, wirkungsvolle Übung: Nehmen Sie ein Blatt Papier, falten Sie es längs in der Mitte und erstellen Sie auf der linken Hälfte eine Liste mit Dingen, die Sie nicht gerne tun, aber von denen Sie meinen, Sie müssten sie tun. Zum Beispiel: »die Kinder mit dem Auto zur Schule bringen und wieder abholen« oder »den Großvater im Altenheim besuchen« oder »das Badezimmer sauber machen« oder »die |52| Lohnsteuererklärung ausfüllen« oder »Klamotten einkaufen«. Machen Sie die Liste nicht im Kopf, sondern schreiben Sie sie auf! Nachdem Sie mindestens zehn Dinge gefunden haben, formulieren Sie für jede Aussage auf der rechten Blatthälfte um: »Ich
will
… tun, weil ich …«; also etwa: »Ich will meine Kinder mit dem Auto zur Schule bringen, weil ich dann weiß, dass sie dort sicher angekommen sind.« Machen Sie das für alle zehn Punkte! Spätestens dann ist Ihnen klar, dass Sie immer wählen
können
, immer andere Alternativen
haben
, auch wenn Ihnen vielleicht keine davon im Augenblick so recht
gefällt
. Und es wird auch deutlicher, warum Sie sich dafür entscheiden, Dinge zu tun, die Sie vielleicht nicht gerne tun, aber dann schließlich doch tun. Weil Sie Vorteile davon haben. Oder mit den Nachteilen nicht leben
wollen
.
Mir geht es hier nicht um Sprachspielereien. Mir geht es um eine extrem verbreitete Einstellung, sich kleinzumachen und die Umstände zu bezichtigen, um nicht verantwortlich zu sein. Es beginnt immer unscheinbar mit einer entlastenden Sprachfloskel und endet in einer Opfer-Story, die manchmal das ganze Leben umfasst.
Better slave than brave.
Irgendwann sind wir, was wir von uns denken. Denn das Denken prägt nicht nur unsere Sprache. Die Sprache
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