Die Entstehung des Doktor Faustus
Schule und die Zwölf Ton-Technik zum Gegenstande. Ohne einen Zweifel zu lassen an des Autors Durchdrungenheit von Schönbergs überragender Bedeutung, übt die Schrift doch auch eine scharfblickende, tief schürfende Kritik an dessen System, indem sie in einem äußerst konzisen, ja überschärften, an Nietzsche und mehr noch an Karl Kraus geschulten Stil das Verhängnis erörtert, das die objektiv notwendige konstruktive Erhellung der Musik aus ebenso objektiven Gründen, gleichsam über den Kopf des Künstlers hinweg, in ein Finsteres, Mythologisches zurückschlagen läßt. Was konnte sich besser fügen in meine Welt des {441} »Magischen Quadrats«? Ich entdeckte in mir, oder fand in mir wieder als etwas längst Vertrautes eine unbedenkliche Bereitschaft zur Aneignung dessen, was ich als mein eigen empfinde, was zu mir, das heißt zur »Sache« gehört. Die Darstellung der Reihen-Musik und ihre in Dialog aufgelöste Kritik, wie das XXII. Faustus-Kapitel sie bietet, gründet sich ganz und gar auf Adorno’sche Analysen, und das tun auch gewisse Bemerkungen über die Tonsprache des späten Beethoven, wie sie schon früh im Buch, in Kretzschmars Expektorationen vorkommen, über das geisterhafte Verhältnis also, welches der Tod stiftet zwischen Genie und Konvenienz. Auch diese Gedanken waren mir in Adornos Manuskript als »eigentümlich« vertraut entgegengetreten, und zu der – welches Wort wähle ich? – Gemütsruhe, mit der ich sie meinem Stotterer variierend in den Mund legte, habe ich nur folgendes zu sagen: Nach einem langen geistigen Wirken geschieht es sehr häufig, daß Dinge, die man voreinst in den Wind gesät, von neuerer Hand umgeprägt und in andere Zusammenhänge gestellt, zu einem zurückkehren und einen an sich selbst und das Eigene erinnern. Ideen über Tod und Form, das Ich und das Objektive mochten dem Verfasser einer fünfunddreißig Jahre zurückliegenden venezianischen Novelle wohl als Erinnerungen an sich selbst gelten. Sie mochten in der philosophischen Schrift des Jüngeren ihren Platz behaupten und daneben ihre funktionelle Rolle spielen in meinem Seelen- und Epochengemälde. Ein Gedanke als solcher wird nie viel Eigen- und Besitzwert haben in den Augen des Künstlers. Worauf es ihm ankommt, ist seine Funktionsfähigkeit im geistigen Getriebe des Werkes.
Es war gegen Ende September 43, und ich arbeitete schon am IX. Kapitel, ohne mit dem VIII., den Kretzschmar-Vorträgen, wie sie damals vorlagen, zufrieden zu sein, als ich Adorno, nach einem Abendessen bei uns, dieses VIII. zu hören gab. »Bei Ti {442} sche über Einzelheiten der Musik-Philosophie. Nachher Lesung des Kapitels der Vorträge. Intimität mit der Musik rühmend bestätigt. Einwände im einzelnen, denen teils leicht, teils schwerlich Rechnung zu tragen ist. Im ganzen zur Beruhigung gedient.« – Sie hielt nicht vor, diese Beruhigung. Die nächsten Tage gehörten wieder der bessernden, reinigenden, amplifizierenden Arbeit am Vortragskapitel, und Anfang Oktober (ich war unterdessen wieder zu IX übergegangen) verbrachten wir einen Abend bei Adornos. Die Stimmung war ernst. Franz Werfel hatte seinen ersten schweren Herzanfall erlitten, von dem er sich nur mühsam zu erholen schien. Ich las drei Seiten über das Klavier, die ich kürzlich in mein bedenklich hypertrophierendes Kapitel eingeschaltet, und unser Gastgeber teilte einiges aus seinen Studien und Aphorismen über Beethoven mit, wobei ein gewisses Zitat aus des Musaeus
Rübezahl
eine Rolle spielte. Das anschließende Gespräch ging über Humanität als das geläuterte Chthonische, über Verbindungen von Beethoven zu Goethe, über das Humane als romantischen Widerspruch gegen Gesellschaft und Konvention (Rousseau) und als Auflehnung (die Prosaszene in Goethes Faust). Dann spielte mir Adorno, während ich zuschauend bei ihm am Flügel stand, die Sonate opus 111 vollständig und auf höchst instruktive Art. Ich war nie aufmerksamer gewesen, stand am nächsten Morgen früh auf und widmete drei Tage einer eingreifenden Um- und Ausarbeitung des Sonatenvortrags, die eine bedeutende Bereicherung und Verschönerung des Kapitels, ja des Buches selbst bedeutete. In die poetisierenden Wort-Unterlegungen, mit denen ich das Arietta-Thema in seiner ursprünglichen und seiner volleren Schluß-Gestalt versah, gravierte ich, als versteckte Dankbarkeitsdemonstration, den Namen »Wiesengrund«, Adornos Vatersnamen, mit ein.
Monate später, schon Anfang 1944, gelegentlich eines Zu
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