Die Erben der alten Zeit - Das Amulett (Die Erben der alten Zeit - Trilogie) (German Edition)
Sie spürte, wie leichte Panik in ihr hochstieg. Was hatte sie dort eben gesehen? War es tatsächlich Biarn gewesen, der eben gerade noch am Waldrand gestanden hatte? Es war doch Biarn, oder? Aber war es die Gegenwart, also jetzt, oder hatte sie die Zukunft gesehen? Charlie sah sich verwirrt um. Ein beklemmendes Gefühl stieg in ihr hoch. Etwas schien ihr den Brustkorb zuzuschnüren! Krampfhaft versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen.
Also falls es die Gegenwart gewesen war, hatte jemand, vermutlich Biarn, sie gerade eben beobachtet! Charlie wurde ganz heiß bei dem Gedanken. Aber falls es nicht die Gegenwart war, falls die lachsfarbene Norne nun die Zukunft zeigte? Charlie sah sich um. Die Norne lag süß duftend und vibrierend vor ihr. Falls sie die Zukunft gesehen hatte... Ja, dann sollte sie wohl schnellsten hier verschwinden, oder? Mit einem letzten bedauernden Blick auf die vibrierende Norne, watete sie hastig ans Ufer. Nur allzu gerne hätte sie noch mehr gesehen. Aber vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht würde sie unentdeckt bleiben. Vielleicht hatte Biarn sie nicht gesehen - nicht gesehen, dass sie unbeschadet die Nornen berühren konnte...
Charlie lief zum Waldrand hoch und sah sich wachsam um. Nichts. Bevor Charlie sich in die Büsche schlug und durch die klare Nacht zur Höhle eilte, sah sie sich noch ein letztes Mal um. Der See lag ruhig da. Alle Blüten hatten sich geschlossen, die Nornen waren bloß noch grüne Bälle, die auf dem See schwammen! Das Zeitfenster der Doppelvollmondnacht war verschlossen und erst in einem halben Jahr, würde wieder die Möglichkeit bestehen, durch die Nornen Urd, Verdandi und Skuld das Schicksal zu ergründen.
Zum Glück wurde Charlie nicht allzu sehr vermist. Sie hätte auch wirklich nicht gewusst, wie sie plausibel erklären sollte, dass sie nachts noch einmal auf Wanderschaft gegangen war!
So wie es aussah, war ihre Abwesenheit erst vor kurzem bemerkt worden. Tora war so damit beschäftigt gewesen Kunar zu versorgen, dass es ihr sogar überhaupt nicht aufgefallen war! Sie schlich blassfahl wie der Godheimmond durch die Höhle und hatte für niemanden einen Blick übrig, abgesehen von Kunar, den sie dafür nicht aus den Augen ließ!
Kunar machte sich Sorgen. Trotz drängenden Fragen, weigerte sich Tora ihm zu erzählen, was sie gesehen hatte. Stattdessen lief sie mit glasigem Blick planlos umher und schluchzte leise. Kunar warf seinerseits Biarn gereizte Blicke zu, die eindeutig besagten - was hast du uns da eingebrockt! Und Charlie warf ihrerseits ebenfalls Biarn Blicke zu, allerdings verstohlene. Hatte er sie vom Seeufer aus gesehen?
Irgendwann erhob sich Biarn seufzend und griff sich Tora. Seltsamerweise protestierte sie kaum, als er sie mit sich fortzog. Im Gegenzug dazu, protestierte Kunar in den lautesten Tönen, bis Biarn ein Machtwort sprach.
»Ich werde ihr nichts tun, ich werde nur mit ihr reden! Mit oder ohne dein Einverständnis, Kunar! Sie leidet! Was auch immer sie gesehen hat, es hat sie schwer erschüttert! Du kommst im Augenblick nicht an sie heran! Aber sie braucht Hilfe! Und ich kann sie ihr geben!« Leichenblass und vor Wut und Sorge zitternd, starrte Kunar Biarn nach, wie er mit Tora in Richtung Höhlensee verschwand.
Was Biarn und Tora beredeten, oder ob sie überhaupt redeten, erfuhren weder Kunar noch Charlie. Aber nach dem Gespräch mit Biarn ging Tora ruhig zu ihrem Nachtlager aus getrocknetem Moos und wickelte sich in eine von Biarns Seidenspinnerdecken. Sie schlief sofort ein.
So eindringlich Charlie Biarn auch beobachtete, sie konnte nichts Auffälliges entdecken. Falls er ihr am See aufgelauert hatte, verbarg er es jedenfalls meisterhaft! Er war wie immer ruhig, freundlich und gelassen. Trotzdem traute sich Charlie nicht, ihn nach der Bedeutung der lachsfarbenen Norne zu fragen, aus Angst Misstrauen zu erwecken.
Am nächsten Tag war Tora wieder fast sie selbst. Sie legte in aller Seelenruhe ein neues Regin direkt neben dem Höhleneingang. Als Kunar sie nach den gestrigen Erlebnissen fragte, sagte sie bloß ruhig, aber sehr bestimmt:
»Wenn ich soweit bin, Kunar, dann erzähle ich es dir vielleicht.« Damit war für sie das Thema erledigt. Fast jedenfalls. Denn eine gewisse Grundgereiztheit blieb ihr seit diesem Tag erhalten, und Kunar und Charlie bekamen diese in der nächsten Zeit häufig deutlich zu spüren.
Kunars kleine Wunde verheilte verhältnismäßig langsam, aber sie heilte. Zum Glück
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