Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
schluckte und betrachtete ihre Fingernägel. Charlie warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Immerhin wusste sie genau, was Kunar meinte.
»Ich verstehe nicht, was mit mir los war … ich fühle mich eigentlich gut… und das mit den Fylgjen ist wirklich unglaublich«, fügte er lächelnd hinzu.
»Was ist eigentlich deine Fylgja?«, wollte Tora von Charlie wissen, offenbar um von Kunars plötzlicher und mysteriöser Heilung abzulenken. Kunar ließ sich von Toras gewollter Begeisterung über die Existenz von Fylgjen anstecken und bald diskutierten alle drei die vielen Vorteile, die diese Wesen mit sich bringen konnten.
Am Nachmittag zogen Wolken auf. Charlie warf einen skeptischen Blick zum Himmel und betrachtete dann die weiß-rosa Blüten in der Schale.
Tora schaute ihr über die Schulter.
»Ich glaube, das war‘s für heute«, sagte sie. »Es wird sowieso bald dunkel. Sollen wir…?«
Charlie nickte. Die Sonne würden sie heute wohl nicht noch einmal zu Gesicht bekommen. Der Wind wurde stärker und Charlie rettete sich und die Schüssel ins Haus. Dann brach das Unwetter auch schon los.
»Schnell!«, rief Toroi. »Schließt die Tür und verriegelt alle Fenster!« Tora rannte zu Kunar ins Zimmer und zog das Fenster zu. Man spürte, wie der Sturm an dem Haus rüttelte.
Es wurde schwarz wie die Nacht um sie herum. Als Toroi die Fackeln an den Wänden entzündete, flackerten sie gespenstisch, denn der Sturm presste sich durch all die kleinen Ritzen des einfachen Blockhauses. Binnen weniger Minuten sank die Temperatur in den Keller. Toroi legte in der Küche Holz nach und entzündete dann auch noch ein Feuer in dem offenen Kamin.
Charlie stellte die Schüssel mit dem Blütenwasser auf die Küchenbank und suchte nach einem verschließbaren Behältnis. Sie fand eine leere Flasche aus Ton.
Charlie schöpfte die Gudalokiblüten mit einem Holzlöffel ab und berührte dann das Blütenwasser.
Die Energie war schwach, aber sie war eindeutig vorhanden!
Charlie atmete erleichtert auf. Sie hatte sich große Sorgen gemacht, dass ihre Bemühungen nicht helfen würden.
»Und?«, fragte Tora, während Charlie das Heilwasser in die Flasche umgoss. Sie musste sich konzentrieren, um nichts von der kostbaren Medizin zu verschütten.
»Es hat funktioniert. Aber die Energie ist sehr schwach.«
»Was hat funktioniert?«, fragte Toroi, die nun doch neugierig geworden war.
Charlie zögerte. Biarn hatte sie gewarnt. Er hatte sie ermahnt, ihr Wissen nicht rauszuposaunen. Wissen war Macht, und wer Macht hatte, lebte in Gefahr. Also versuchte sie so allgemein wie möglich zu antworten.
»Die heilende Wirkung der Gudalokiblüten ist auf das Wasser übergegangen«, erklärte Charlie und hoffte, dass Toroi nicht weiterbohren würde. Weit gefehlt.
»Wie meinst du das?«, fragte Toroi. »Du hast es nicht gekocht oder aufgebrüht. Es hat doch nur in der Sonne gestanden. Was hast du damit gemacht?«
Dann sah sie Charlie misstrauisch an. »Hast du es verzaubert?« Sie flüsterte fast. Angst schwang in ihrer Stimme mit.
Charlie schwieg.
»Ich würde es gerne sofort ausprobieren«, sagte sie dann und sah aus dem Fenster. Der Sturm tobte nach wie vor über dem Fischerdorf. Es hatte heftig zu regnen begonnen.
»Falls es auch nur ein wenig Linderung verschafft, ist es das wert. Die Medizin ist nicht sehr stark. Ich hätte frische Blüten gebraucht.«
Als Toroi einfach nur stumm und regungslos dastand, mischte sich Tora ein.
»Es ist doch wohl egal, wie Charlie es gemacht hat, oder?«, fragte sie leicht gereizt. »Wenn es Fina helfen kann, ist es doch egal!«, wiederholte sie.
»Geht nur«, sagte Toroi dann. »Ich bleibe bei den Kindern. Oski müsste auch jeden Augenblick hier sein …« Sie warf einen besorgten Blick aus dem Fenster. Ihr Mann war mit Arne zum Fischen hinausgefahren. Zum Glück entfernten sie sich niemals weit vom Ufer, allein schon wegen der Marmenillen.
Obwohl sie nur ein paar Meter gehen mussten, klopften Tora und Charlie nass bis auf die Haut bei Sigrid an die Tür. Es fing sogar gerade an zu hageln.
Da ihnen niemand öffnete, traten sie eigenständig ein. Fina hatte einen ihrer Anfälle und schrie, als wäre Oden persönlich hinter ihr her. Ein grausames Bild bot sich ihnen.
Das Mädchen hatte sich offenbar losgerissen und schlug wild um sich. Sigrid kämpfte mit all ihren verbliebenen Kräften, doch ihre rasende Tochter war stärker. Charlie stellte die Flasche ab und kam Sigrid zu Hilfe.
Doch erst mit
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