Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
Toras Hilfe schafften sie es irgendwie, die tobende junge Frau in den Griff zu bekommen.
Ohne Rücksicht auf Verluste kippte Charlie Fina einen kräftigen Schluck des Blütenwassers in den Mund. Fina verschluckte sich und begann panisch zu spucken, dann sackte sie in sich zusammen. Sie jammerte und verdrehte weiterhin die Augen, doch sie hatte aufgehört zu schreien und zu kämpfen.
Sigrid starrte ihre Tochter erschöpft an. Eine breite Kratzspur zog sich quer über ihr Gesicht, ein Auge war von einem Fausthieb angeschwollen. Nach einiger Zeit fiel Fina in einen unruhigen Schlaf.
Sigrid hatte Tränen in den Augen.
»Sie schläft … es ist das erste Mal seit langem, dass sie nicht …« Sigrid schluchzte auf. »Das einzige, was sonst ihre Anfälle stoppt, ist eine Art Bewusstlosigkeit«, erklärte sie dann.
Charlie reichte Sigrid die Flasche mit dem Gudalokiwasser und erklärte ihr, dass, obwohl die Energie sehr schwach war, es Finas Zustand vielleicht trotzdem bessern könnte.
Sigrid war von dem Kampf mit ihrer Tochter vollkommen erschöpft, also brühte Tora ihr erst einmal einen Tee auf und suchte in der kleinen, maßlos überfüllten Küche nach etwas zu essen.
Als Tora die kleine Stärkung servierte, riet Charlie Sigrid gerade, Fina zweimal täglich einen großzügigen Schluck zu geben.
»Ich hoffe wirklich sehr, dass es hilft«, sagte Charlie. »Wenn ich recht habe, müsst ihr dringend weitere Blüten auftreiben. Ich glaube nämlich nicht, dass die Energie stark genug ist, um die Mara ganz zu vertreiben. Frische Blüten dagegen … die könnten es vielleicht schaffen.«
Ein Hoffnungsschimmer war in Sigrids müden Augen zu erkennen. Charlie betete, dass es nicht umsonst war.
Am Vormittag des nächsten Tages stürmte Arne plötzlich durch die Tür.
»Sie redet!«, brüllte er und knallte die Tür hinter sich zu. Er war so aufgeregt, dass sich seine Worte fast überschlugen. »Unsere Fina! Es geht ihr besser! Sie ist wieder ansprechbar!«
Toroi ließ die Kelle in den Kessel fallen und starrte Arne sprachlos an. Dann schlug sie die Hände vor den Mund und stieß ein: »Eir, sei Dank!«, aus.
Trotz des Unwetters wurde es der beste Tag seit ihrer Ankunft am Hvergelmer. Arne war wie trunken vor Glück, und gegen Abend war er dann tatsächlich betrunken. Die Freude darüber, dass es Fina etwas besser ging, lockte alle Dorfbewohner in Oskis Haus. Nur Sigrid saß bei ihrer Tochter – ganz in Ruhe und glücklich, abgeschirmt von dem Trubel zwei Häuser weiter.
Charlie, Tora und Kunar feierten glücklich mit. Sie waren froh darüber, dass sie helfen konnten, auch wenn Fina noch lange nicht geheilt war.
Genauso wie Charlie vermutet hatte, verbesserte sich ihr Zustand, doch ganz gesund wurde sie nicht. Charlie instruierte Sigrid in der Herstellung der Medizin und bat die Bewohner des Dorfes, Stillschweigen zu bewahren. Sie versprachen ihr, niemandem zu verraten, wem sie die neue Medizin zu verdanken hatten.
10. Kapitän Brage und Heimdall
K unar ging es von Tag zu Tag besser, und etwa zwei Wochen nach dem Angriff der Marmenillen konnten sie ihre Reise fortsetzen.
Die Dorfbewohner, allen voran Sigrid und Arne, winkten ihnen noch lange nach, als sie gut versorgt den Küstenweg gen Norden einschlugen. Das ganze Dorf hatte zu ihrem Reiseproviant beigetragen, sodass sie mehrere Wochen damit auskommen konnten, wenn sie zusätzlich auf die Jagd gingen.
Da Kunar noch etwas schwach war, zwang Tora ihren Bruder dazu, so oft wie möglich auf Gler zu reiten. Charlie vermutete, dass er es hauptsächlich Tora zuliebe tat, da er der Meinung war, einiges an Freundlichkeit nachholen zu müssen.
Das Wetter war wieder besser geworden. Der Schnee, der von dem Sturm mitgebracht worden war, schmolz in der milden Luft dahin und Gler schnaubte fröhlich. Sie verbrachten ihre Nächte an von Arne empfohlenen Schutzstätten. Biarns ausführliche Wegbeschreibung war mit Charlies Büchern im Hvergelmer verschollen.
Nachts kreisten oft Scharen von Nidhöggs über ihnen und vermittelten das mulmige Gefühl, beobachtet zu sein. Einmal wurden sie Augenzeugen, wie eine übergroße Zahl Nidhöggs einige Wanderer angriff, die es nicht rechtzeitig in den Schutz des Jordvätten geschafft hatten. Die Freunde mussten hilflos mit ansehen, wie die Nidhöggs fünf Menschen mit sich fortschleppten.
Nidhöggs jagten normalerweise in kleinen Gruppen. Ihre Familien waren untereinander verfeindet und nicht zu Bündnissen fähig.
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