Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
Kunar. Charlie schwang sich hinter die kleine Reitergestalt auf das Einhorn, rammte ihm die Hacken in die Seiten und riss es unsanft herum. Wie vom Blitz getroffen stürmte das Tier vorwärts.
Dann wurde der Himmel über ihnen schwarz!
Die Zeit schien still zu stehen. Charlie wurde schlagartig das Ausmaß der Bedrohung bewusst.
Wir schaffen es nicht!
Das schützende Kraftfeld des Jordvätten schien ihr wie ein unerreichbarer Stern.
Das Heer der Nidhöggs füllte den Himmel aus – Schreie des Triumphes zerrissen die Nacht und die ersten Monster stürzten sich mit weit aufgerissenen Mäulern und gefährlich blitzenden Eckzähnen herab – sie kamen um zu töten, zu zerreißen, um sich am Blut zu laben.
Charlie erlebte alles wie in Zeitlupe. Kunar kehrte auf dem Absatz um und rannte um sein Leben. Tora ließ verzweifelt Steine und Äste fliegen, doch es war wie ein Tropfen auf den heißen Stein.
Aus dem Augenwinkel sah Charlie noch etwas anderes. Ein blau-schimmernder Drache erhob sich mit weit ausgebreiteten Schwingen neben ihr in die Höhe. Und während er aufstieg, schien er alles Kindliche zu verlieren. Er wuchs zu gigantischer Größe heran und öffnete sein riesiges Maul.
Das blaue Feuer, das über die Fylgjen der Nidhöggs hinwegfegte, ließ diese regelrecht zusammenschrumpften.
Zu spät. Viel zu spät.
Unbändige Wut stieg in Charlie hoch. Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Luft, gefolgt vom Geräusch krachenden Holzes! Dutzende riesige Bäume explodierten. Ein Sperrfeuer aus Erde und zersplittertem Holz raste in das Heer der kreischenden Nidhöggs.
Kunar erreichte die Sicherheit des Jordvätten als Erster, dicht gefolgt von Charlie. Mit aller Kraft warf sie sich zurück und zügelte das panische Einhorn.
Kunar griff nach den Zügeln. Charlie sprang mit einem Satz hinunter und sah sich nach ihren Angreifern um. Die wenigen Überlebenden ergriffen kreischend die Flucht.
Es sah wie auf einem Schlachtfeld aus. Tote und verletzte Nidhöggs lagen herum, der Boden war blutgetränkt.
Der mächtige blaue Drache war verschwunden. Tora eilte herbei und fing die Gestalt auf, die leblos vom Einhorn glitt. Es war ein Junge, nicht älter als zehn oder elf Jahre. Er hatte einige tiefe Wunden abbekommen, doch er lebte. Auch das Einhorn blutete stark und zitterte am ganzen Körper. Charlie war wie durch ein Wunder unverletzt geblieben.
»Wir brauchen Nidhöggseckzahn«, stieß Charlie atemlos hervor und betrachtete die Wunden des Jungen.
»Bringt ihn hinein, und fangt an, seine Wunden zu reinigen. Ich bin gleich wieder da«, sagte Kunar.
Charlie und Tora trugen den bewusstlosen Jungen in die Blockhütte.
»Bring das Einhorn zu Gler in den Stall«, sagte Charlie zu Tora, »wir kümmern uns später um seine Wunden. Ich brauche dich hier!«
Noch bevor Charlie den Jungen näher untersuchen konnte, war Tora zurück. Sie holte den Beutel mit den Heilmitteln hervor, die ihnen Anna eingepackt hatte.
»Was haben wir denn hier«, murmelte Charlie, während sie ihre Finger abwechselnd über den kleinen Jungen und die Heilkräuter gleiten ließ. Ihre Sinne waren scharf wie nie zuvor.
Fast unheimlich scharf.
Tora war dabei, das Wasser in einem Kessel zum Kochen zu bringen.
»Das hier und dieses hier auch«, entschied Charlie schließlich. Sie sprang auf, um die erfühlten Kräuter in zwei Schüsseln zu geben.
Die Tür flog auf. Klatschnass stolperte Kunar in den Raum. In seinen blutverschmierten Händen hielt er zwei enorme Nidhöggseckzähne.
»Es ist nicht mein Blut«, beeilte er sich zu sagen. Die Zähne aus einem toten Nidhögg herauszubrechen war keine leichte Arbeit.
Tora reichte ihm etwas Wasser.
»Wasche sie ordentlich, bevor du sie zerkleinerst.«
Charlie gab Tora die Heilkräuter.
»Bereite alles vor« erklärte sie hastig. »Ich besorge die Steine, damit Kunar die Nidhöggseckzähne zermalen kann.«
Sie eilte hinaus in den strömenden Regen und suchte im Halbdunkel nach geeignetem Material. Das Wasser lief ihr übers Gesicht und in die Augen. Sie war so nass, als wäre sie in Gymers See baden gewesen.
»Nicht die besten Mahlsteine, aber was anderes habe ich nicht gefunden«, entschuldigte sie sich.
»Es wird schon gehen«, murmelte Kunar, der die Zähne bereits gesäubert hatte.
Charlie half Tora, die Wunden zu reinigen. Der Junge war immer noch bewusstlos, weil er viel Blut verloren hatte.
Mit dem grob gemahlenen Nidhöggseckzahn gelang es schnell, die Blutungen zu stoppen. Tora legte
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