Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
schmerzlindernde Umschläge auf, und Charlie flößte dem Jungen etwas Tee ein.
»Der Sud wirkt zwar stärkend«, erklärte sie beunruhigt, »aber ich weiß nicht, ob es reicht. Er ist so blass …«
Auch Kunar betrachtete den Verletzten besorgt.
»Was ist mit dem Einhorn?«, fragte er dann.
»Kümmert euch darum. Hier könnt ihr im Moment sowieso nichts mehr tun. Ich passe auf den Jungen auf«, sagte Tora.
Charlie und Kunar eilten in den Stall. Die Wunden des Einhorns waren tief, doch es stand auf den Beinen. Sie versorgten die Stute so gut es ging. Gler stand dicht neben seiner Artgenossin und knabberte ihr beruhigend den Mähnenkamm.
Eine halbe Stunde später saßen die drei Freunde am wärmenden Feuer und schlürften heißen Tee. Der kleine Junge lag blass und reglos auf einem improvisierten Lager.
»Das ist nicht gut«, sagte Kunar endlich. Charlie wusste, was er meinte.
Wie sollten sie das Chaos vor der Schutzstätte erklären?
Der Wald in die Luft gesprengt und ein Dutzend tote Nidhöggs – das war keine Kleinigkeit.
»Wir sollten hier abhauen, so schnell es geht«, sagte Kunar. »Sobald es dämmert«, fügte er hinzu. Tora warf einen Blick auf den Jungen.
»Und was wird aus ihm?«, fragte sie. »Wir können ihn doch nicht einfach hier lassen.« Kunar schwieg.
»Wir lassen ihn nicht hier«, sagte Charlie bestimmt. »Unweit von hier gibt es einen Hof. Wir sind schon daran vorbeigekommen. Dort bringen wir ihn und das Einhorn hin!«
»Das Risiko ist zu groß. Wir dürfen niemandem begegnen«, warnte Kunar.
Sein Einwand war berechtigt, doch Charlie weigerte sich, den Jungen hier einfach seinem Schicksal zu überlassen.
»Wir könnten ihn unter einer Decke verstecken. Uns fällt schon was ein. Und dann …« Charlie zögerte, denn es gefiel ihr nicht. »Und dann legen wir ihn einfach vor dem Tor ab. Irgendjemand wird ihn schon finden.«
»Ich finde, Charlie hat recht«, sagte Tora. »Wir können ihn nicht einfach hier lassen.«
Kunar schüttelte den Kopf.
»Unsere Mission darf nicht gefährdet werden. Godheims Zukunft und Hannas Leben stehen auf dem Spiel!«
»Lasst uns morgen darüber entscheiden«, schlug Charlie vor. »Wir sollten versuchen, zumindest ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, bevor wir morgen in aller Frühe aufbrechen.«
Tora erneuerte noch einmal die schmerzlindernden Umschläge, dann legten sie sich nieder. Charlie lag noch lange wach, bevor sie einschlief.
Nebel ... Gestalten mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen … ein verschwommenes Wesen rührte sich in ihrer Mitte ... gespenstische Stille … Plötzlich leuchtete eine Hand auf, und knorrige, von Gicht und Alter verkrüppelte Finger führten eine komplizierte Handbewegung aus, während die kapuzenverhüllten Gestalten einen magischen Kreis bildeten. Ein rhythmisches Gemurmel – fast wie ein Gesang – wurde lauter und eindringlicher, und plötzlich brannte der Wald lichterloh!
Charlie warf sich unruhig auf ihrem Lager umher.
Die Hand! Diese knorrige Hand!
Charlie konnte sich nur allzu gut an sie erinnern.
Odens Hand!
Das Feuer breitete sich rasch aus – von seinem Bewusstsein getrieben.
Das Dorf schlief. Nur vereinzelt wankten letzte, vom Met berauschte Gestalten zu ihren Häusern. Niemand sah das Unheil kommen …
Mit einem Ruck wachte Charlie auf. Es war noch dunkel, sie konnte nicht lange geschlafen haben. Tora atmete ruhig. Kunar saß still auf seinem Lager und betrachtete Charlie mit müden Augen. Das Feuer im Kamin knisterte vor sich hin. Es war angenehm warm.
»Warst du die ganze Zeit wach?«, fragte Charlie.
»Ich hielt es für sicherer, Wache zu halten«, antwortete er und machte eine vage Handbewegung nach draußen, wo ein zerstörter Wald und tote Nidhöggs offensichtliche Zeugen von Magieanwendung waren.
»Ich übernehme jetzt«, murmelte Charlie, während sie in Gedanken ihren Traum rekapitulierte. So ähnlich hatte sie es schon so oft geträumt.
Immer wieder kapuzenverhüllte Gestalten im Nebel. Immer wieder diese grauenvolle Hand. Und Feuer …
Doch dieses Mal hatte sie ein Dorf gesehen.
Kunar legte sich hin und zog seine Decke zurecht.
»Sag mal, Kunar«, begann Charlie zögernd.
»Hm«, machte er und stützte sich auf seinen Ellenbogen.
Charlie erzählte ihm von ihrem Traum.
»Ich glaube, es wird etwas Furchtbares passieren. Nur weiß ich nicht wo. Ich kann also niemanden warnen. Weshalb habe ich diese Träume dann?«
Kunar überlegte eine Weile, bevor er
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