Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
Wald sah überall gleich aus. Sie hinterließen so gut wie keine Spuren, denn der weiche, moosige Waldboden federte ihre Fußabdrücke ab wie eine überdimensionale Matratze. Nur Gler hinterließ gelegentlich eine Mulde im feucht-erdig riechenden Boden, die man allerdings kaum als Hufabdruck bezeichnen konnte.
»Wir könnten wochenlang im Kreis laufen und nicht einmal bemerken, ob wir schon einmal hier gewesen sind«, stellte Kunar resignierend fest. »Und wenn wir Markierungen anbringen?«, meinte Charlie halbherzig. »Doch dann könnten uns auch etwaige Verfolger leicht einholen …«
»Keine Spuren!«, entschied Kunar.
»Wir verlassen uns auf unsere Intuitionen«, sagte Tora etwas zu fröhlich. »Dann finden wir bestimmt einen Weg hinaus. Und bis es soweit ist«, fuhr Tora unbeirrt fort, »muss Charlie ihre Sinne offen halten. Immerhin wohnen Jordvätten nicht nur in Ebereschen sondern auch in Felsen.«
Charlie sah sich zweifelnd um. Für Laubbäume schien dieser Nadelwald keinen Platz zu lassen.
Und Felsen?
Kleinere, moosbedeckte Findlinge waren hier und da zu erkennen, aber als Fels würde sie diese Steine nicht bezeichnen wollen. Genauso wenig wie Kunar wollte sie Tora die Zuversicht nehmen, also schwieg sie und begann die Umgebung nach Schwingungen eines Jordvätten abzutasten. Noch waren es einige Stunden bis Sonnenuntergang.
Zwei Stunden später sah der Wald genauso aus wie zuvor. Der einzige Unterschied bestand darin, dass es nun richtig zu regnen begonnen hatte und Charlies magische, regenfreie Schneise nun einem Tunnel glich, dessen Wände aus einem Wasserschleier bestanden.
Zwei weitere Stunden später, begann sich Tora ernsthaft Sorgen zu machen.
»Spürst du denn gar nichts?«, fragte sie unruhig.
Charlie schüttelte den Kopf.
»Außerdem kostet mich der Regentunnel viel Energie«, gestand sie müde. »Langsam fällt es mir schwer, gleichzeitig nach einem Jördvätten zu suchen.«
Kunar kniff die Lippen zusammen. Er wollte zwar nicht nass werden, aber eine sichere Bleibe für die Nacht war wichtiger. Obwohl Tora den Ernst der Lage durchaus begriff, konnte sie ihre Einwände nicht für sich behalten.
»Wir werden bis auf die Knochen nass werden! Und auch wenn wir einen Jordvätten finden, heißt es noch lange nicht, dass wir dort unsere Sachen trocknen können!«
Kunar schüttelte ärgerlich den Kopf.
»Also wirklich, Tora! Wenn die Nidhöggs uns aussaugen, dann sind nasse Sachen unser kleinstes Problem!«
»Jetzt krank zu werden, ist ein äußerst schlechter Zeitpunkt!«, fauchte seine Schwester bissig zurück.
»Sag mal, hört ihr das?«, fragte Charlie dann.
Tora und Kunar sahen irritiert hoch.
»Was denn?«, fragte Tora.
»Scht«, zischte Kunar. »Es klingt wie das Rauschen von Wasser«, sagte er. Sein Gesicht erhellte sich schlagartig.
»Dachte ich`s mir doch«, meinte Charlie hoffnungsvoll. Gler schien auch etwas bemerkt zu haben, denn er lief mit gespitzten Ohren zielstrebig voraus.
»Usch!«, rief Tora kurz darauf. »Was ist denn das?!« Gler war wie angewurzelt stehen geblieben und wich nun schnaubend zurück. Vor ihnen lag die größte Ameisenstraße, die Charlie je gesehen hatte! Sie war mindestens drei Meter breit und bevölkert von Abermillionen Tieren! Es krabbelte und wuselte geschäftig, wo man auch hinsah.
»Das müssen Mörkveden-Ameisen sein«, sagte Tora leicht angeekelt und zog vorsichtshalber ihre Röcke höher. »Ich kenne ihre Flügel und Beine vom Markt in Bragesholm … «
»Vom Markt?«, fragte Charlie und kam neugierig näher. »Aber diese hier haben doch gar keine Flügel.«
Die Insekten waren etwa sechs Zentimeter lang, knallrot und mit langen schwarzen Fühlern versehen, doch Flügel gab es wirklich keine.
»Na, die Beine erkenne ich jedenfalls wieder«, meinte Tora mit einem vielsagenden Blick. Sie waren nicht nur knallrot wie der Körper, sondern leuchteten trotz Regens in einer metallischen Klarheit, als würden sich hundert Sonnen darin spiegeln.
»Vermutlich haben nur einige wenige Flügel«, mischte sich Kunar ein. »Vielleicht für die Paarungszeit?«
Gler waren sie trotzdem unheimlich, er wich schnaubend noch weiter zurück, um in aller Deutlichkeit klarzustellen, dass er die Ameisenstraße nicht überqueren wollte.
»Und jetzt?«, fragte Charlie. »Die Ameisenstraße macht dort drüben einen Bogen!«, rief Kunar durch den strömenden Regen. »Ich schlage vor, wir folgen ihr und hoffen, dass sie uns zum Wasser führt!«
Eine
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