Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
schwindelerregender Höhe – erstreckte sich die Hochebene mit den ersten Ausläufern von Trymhem. Die Gletscher der vorzeitlichen Eiszeit hatten die ursprünglichen Täler Jättehems zu Trogtälern überformt, und diese waren vom Meer überflutet worden. Die eisige Kälte hatte aus den oberen Hängen des Trymfjordes große Teile des Gebirges abgesprengt und steile, scharfkantige Felswände hinterlassen.
Als sie zwei Tage zuvor auf das Trymtal gestoßen waren, war das Tal noch wesentlich breiter. Der Pfad, dem sie seit ihrem Aufbruch aus dem Mörkveden gefolgt waren, hatte sich durch mehrere Schluchten geschlängelt, und wand sich nun im Trymtal am Fjord entlang gen Hvergelmer.
Der Bereich zwischen Fjordufer und Steilwand wurde zusehends schmaler, und Charlie begann zu überlegen, wie lange sie hier wohl noch Platz finden würden.
Ragnar marschierte unermüdlich durch Schnee und Eis den immer enger verlaufenden Pfad in südwestlicher Richtung entlang, direkt ins Herz von Jättehem.
Flüsse und Wasserfälle waren zu Eis gefroren, und es hatte seit mehreren Tagen pausenlos geschneit. Doch nun brach die Wolkendecke unerwartet auf und schickte erste freundliche Strahlen über das Land, von denen sich auch einige in das enge Trymtal verirrten.
Charlie sah sich um und entdeckte Tora, die angesichts der Sonnenstrahlen für Charlies Begriffe viel zu erschrocken dreinschaute.
»Was ist?«, fragte sie und folgte Toras entgeistertem Blick, der zwischen Ragnar und dem Steilhang hin und her wanderte.
»Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, oder?«, fragte Tora gerade, als Charlie sich verwirrt umsah. Kunar hatte zu Ragnar aufgeschlossen und warf einen skeptischen Blick auf Gler, der sich – der bevorstehenden Schwierigkeiten glücklich unbewusst – über die Pause und die stärker werdenden Sonnenstrahlen freute und seelenruhig vor sich hin döste.
»Oh, nein!«, entfuhr es auch Charlie, als sie die schroffe Steilwand empor sah.
Eine Art Flaschenzug, an einem kranähnlichen Gebilde befestigt, führte rund 500 Meter nach oben.
Charlie schwante Böses.
»Nein, nein!« Tora schüttelte energisch ihren Kopf. Sie schob die Kapuze samt Schnee darauf in den Nacken und schaute skeptisch auf die wenig vertrauenserweckende Vorrichtung.
»Doch!«, verkündete Ragnar und griff nach dem Ende eines gefrorenen Seils, das auf eine Winde gewickelt war. Er kurbelte das Seil ab und ein großer Korb mit allerlei Schlaufen und Haken senkte sich herab, doch es dauerte.
»Sattelt das Einhorn ab und legt alle Sachen in den Korb«, befahl Ragnar. »Ich werde Tora und dich, Kunar, zuerst hinaufbefördern.« Tora schüttelte erneut den Kopf.
»Nein!«, protestierte sie entschieden und wich zurück.
»Was wird aus Gler?«, fragte Charlie.
»Ganz genau!«, ergriff Tora diese Chance wie eine Ertrinkende einen Strohhalm. »Wir gehen nicht ohne Gler!«
»Natürlich nicht«, sagte Ragnar und grinste Tora so breit an, dass eine Reihe stattlicher Zähne aufblitzten. »Deshalb müsst ihr ja auch zuerst dort hinauf. Ihr sollt Gler entgegennehmen und losbinden!«
»Losbinden …«, sagte Tora etwas schwach.
»Ganz genau!«, nickte Ragnar. »Nun mach schon, sonst frieren wir hier noch fest!«
Obwohl Charlie noch keine Vorstellung davon hatte, wie das Ganze ablaufen sollte, half sie Ragnar zehn Minuten später dabei, den Korb mit Tora, Kunar und all ihrem Gepäck darin die steile Wand emporzukurbeln.
Es ging leichter als sie gedacht hatte. Ein ausgeklügeltes System sorgte dafür, dass die Fuhre nicht abstürzte, falls sie das Seil losließen. Die Kurbel lief überraschend leicht. Trotzdem dauerte es sehr lange, bis der Korb mit den Geschwistern die Hochebene erreichte.
Nachdem sie hinausgeklettert und alles ausgeladen hatten, ließen sie den Korb wieder hinunter. Ragnar drehte sich zu Charlie um, die den immer noch dösenden Gler am Zügel hielt.
»So, und nun zu eurem Einhorn!«, verkündete Ragnar.
Charlie schluckte.
Gemeinsam legten sie dem ahnungslosen Gler die Gurte um Bauch und Brust und verschnürten ihn zu einer sicheren Fracht. Bevor Gler den Braten riechen konnte, begann Ragnar schon die Kurbel zu drehen.
Als Gler endlich begriff, was seine Charlie da mit ihm vorhatte, verließen seine Hufe bereits den sicheren Boden, und sein Versuch, davon zu galoppieren endete mit zappelnden Bewegungen einige Meter über dem schneebedeckten Trymtal.
Charlie rief dem Einhorn beruhigende Worte hinterher, während sie mit mulmigem Gefühl
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