Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
unsere Ziele dieselben sind, hast du nichts zu befürchten!«
Ragnar lachte verächtlich auf. Furcht war etwas, das er niemals zuließ.
»Selbstverständlich nicht.«
»Du weißt genau, was Kunar meint«, sagte Charlie schroff. »Dein und unser Schicksal, sie sind irgendwie miteinander verknüpft. Du hast es selbst vermutet. Du weißt, dass wir alle vorsichtig sein müssen!«
Ragnars Augen blitzten spöttisch auf.
»So vorsichtig, wie ihr soeben und in Friggstorp gewesen seid?«, fragte er zuckersüß.
Charlie nickte betreten und schlug mit den Armen aus.
»Ja, ich weiß«, seufzte sie.
»Euch etwas anzuvertrauen, wäre durchaus ein Fehler«, sagte Ragnar. »Ich dagegen weiß, Geheimnisse zu bewahren!«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte sie. »Aber wir tun unser Bestes. Mehr als das geht nicht.«
Ragnar stand den drei betreten dreinblickenden Freunden noch eine Weile schweigend gegenüber.
»Also gut, lasst uns unseren Weg fortsetzen«, sagte er dann. »Ich bin schon sehr gespannt, wo er uns hinführt!«, fügte er mit leicht spöttischem Unterton hinzu.
Sora fegte im gestreckten Galopp auf Hravn über die hart gefrorene Schneedecke. Das gute Wetter hielt nun schon mehrere Tage an und weckte in Mensch und Tier die Lebensgeister.
Sora war auf dem Weg zum Trymfjord, in der Hoffnung, endlich einmal wieder das faszinierende Schauspiel des aufsteigenden Nebelmeeres beobachten zu können. Hravn genoss nach Wochen der erzwungenen Untätigkeit den Auslauf und rannte, als würde er abheben wollen.
Die Steilwand hinab ins Trymtal war bereits gefährlich nahe, und Sora machte sich auf einen rasanten Stopp gefasst. Sie kannte das bereits. Hravn setzte sich dazu förmlich auf seinen Hintern, rammte seine Hinterhufe in den Schnee und lief mit den Vorderbeinen die letzten Meter noch mit, um keine Vorwärtsrolle zu riskieren.
Der eisige Wind fegte Sora um die Ohren und zwiebelte die wenigen freien Hautpartien in ihrem vermummten Gesicht. Sie spürte, wie Hravn sich unter ihr wie eine Feder spannte und lehnte sich für die bevorstehende Vollbremsung zurück.
Doch diesmal war alles anders!
Anstatt abzubremsen stemmte er sich mit zwei weiteren Galoppsprüngen kraftvoll vorwärts. Noch bevor Sora an den Zügeln reißen konnte, fegte der Pegasus mit einem gewaltigen Satz über die Klippe!
Sora schrie entsetzt auf! Eine Ewigkeit lang schienen sie über dem Abgrund zu schweben. Dann begann der freie Fall. Soras Schrei hallte durch das Trymtal und wurde von den schroffen Felsen zurückgeworfen. Plötzlich breitete der rabenschwarze Pegasus seine Schwingen aus und segelte in einem Bogen auf die gegenüberliegende Steilwand zu. Sora riss entsetzt die Augen auf.
In wenigen Sekunden würden sie am steinernen Hang zerschmettern!
Der Schrei blieb ihr im Halse stecken. Denn auf einmal spürte Sora, wie sich Hravns gefiederte Schwingen kraftvoll hoben und senkten. Der Pegasus lehnte sich ruckartig zur Seite und segelte der Steilwand folgend den Trymfjord hinab. Dann schwang er sich mit zwei kräftigen Flügelschlägen vorwärts. Unter ihnen erreichte der aufsteigende Nebel Hravns Hufe und tauchte seine Beine bald in weiße Watte.
Hravn gewann mit einigen weiteren Flügelschlägen an Höhe, und als würden sie von der Nebelwand emporgetragen, schossen sie über das Trymtal hinaus, ließen die Hochebene und den Fjord hinter sich und flogen geradewegs in den Himmel!
So erschien es Sora jedenfalls, denn unter ihr schrumpfte die Welt, während sie sich krampfhaft an Hravns Mähne festklammerte. Sie atmete tief durch und wagte einen genaueren Blick.
Hravn flog nun, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, über die Hochebene von Trymhem. Unter ihnen glitt das weite, schneebedeckte Plateau vorüber, das in der Wintersonne glitzerte.
Sora entspannte sich langsam und das Gefühl des Wiedererkennens durchströmte ihren Körper.
Eine unbändige Freude stieg in ihr hoch.
Genauso hatte es sich in ihren Erinnerungen angefühlt – in den Erinnerungen eines kleinen Mädchens, das sich auf dem Rücken eines schwarzen Pegasus in die Lüfte erhob.
Sie spürte Hravns warmen Pelz unter sich. Die Bewegungen, mit denen sich seine Schwingen gegen ihre Schenkel hoben und senkten. Und mit einem Male fühlte sie sich sicher. Es war wie Reiten. Wenn man es einmal konnte, verlernte man es nicht. Sora streckte sich und ein lautes Lachen verließ ihre Kehle. Hravn schnaubte erregt, wendete in einem waghalsigen Manöver, nur um
Weitere Kostenlose Bücher