Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
Parkplatz. »Mein Auto!«
Ein dicker Ahornast hatte den einzigen Wagen begraben, der auf dem Parkplatz stand: Evas alten Saab 9000.
»Der ist platt!«, brummte Jonas, der an Evas Seite getreten war und ihr nun tröstend eine Hand auf die Schulter legte. »Da ist nicht mehr viel zu retten!«
»Ich glaube das einfach nicht!«, jammerte sie. »Wo kommt dieser Sturm überhaupt so plötzlich her? Davon hatten sie im Wetterbericht gar nichts gesagt.«
Jonas schüttelte den Kopf. Dann betrachtete er den immer stärker werdenden Sturm.
»Sag mal, ist das etwa Schneefall?«, fragte er und trat näher an die Glastür heran. Diese öffnete sich automatisch – der kalte Wind wirbelte Schneeflocken herein. Eine Böe erfasste die Zeitschriften und ließ die dünnen Seiten nur so flattern.
Eva zerrte Jonas zurück, damit sich die Tür wieder schloss und das Unwetter aussperrte.
»Das ist tatsächlich Schnee!«, sagte Eva und blickte auf das Chaos. Sie fuhr sich durch ihre kurzen, blonden Haare, eilte hinter den Tresen und schaltete das kleine Radio ein.
»Ich dachte zunächst, es wären Blütenblätter ...«, murmelte sie, während sie einen Sender suchte.
Jonas nickte. Das wäre naheliegend gewesen, immerhin hatten sie Ende Mai.
Âsa kam herbeigeeilt und blickte kopfschüttelnd nach draußen.
»Also, nach Gudrun sollten sie es doch wirklich gelernt haben, rechtzeitig Sturmwarnungen herauszugeben! Wie soll ich denn mit Linus bei dem Wetter zurück zur Schule kommen«, rätselte sie.
Sie warf einen Blick ans andere Ende der Bibliothek. Da saß Linus freudestrahlend vor seinem Stapel Bildbände. Für ihn war die Welt in Ordnung. Er würde noch mindestens eine Stunde dort sitzen bleiben, egal ob nun da draußen ein Sturm wütete oder gar die Welt aus den Angeln gehoben wurde.
Âsa seufzte.
»Vielleicht legt der Wind sich wieder. Wenn nicht, werde ich wohl ein Taxi bestellen müssen.«
Gudrun . Seit Januar 2005 kannte jedes Kind in Schweden diesen Namen. Der Orkan Gudrun hatte vom Nachmittag des 8. Januar bis zum späten Vormittag des folgenden Tages über ganz Südschweden gewütet und weit über 200.000 Hektar Wald dem Erdboden gleichgemacht. Mehr als 340.000 Haushalte waren ohne Strom und Telefon gewesen, manche für Monate. Dächer waren abgedeckt, Lkw umgestoßen und Scheunen, Häuser und Autos unter Bäumen begraben worden. Viele verloren ihr ganzes Vermögen. Die Aufräumarbeiten dauerten Jahre.
Zwei Jahre später fegte erneut ein schwerer Sturm über die Region. Per richtete ebenfalls Schäden an, das Ausmaß der Zerstörung kam jedoch nicht annähernd an jenes von Gudrun heran. Abgesehen davon war Per rechtzeitig angekündigt worden, was vielen Menschen half, sich auf das Unwetter vorzubereiten. Falls dieser Sturm, der nun wütete, nicht bloß ein kurzes Schauspiel war, würde die Bevölkerung dieser Region erneut unvorbereitet getroffen werden.
Jonas lauschte gespannt dem Rauschen des Radios in Evas Händen. Doch ihr gelang es nicht, einen Sender zu finden.
»Darf ich helfen?«, fragte höflich der Student, der sich neugierig zu ihnen gesellt hatte.
Eva reichte ihm wortlos das Gerät. Der junge Mann drehte und wendete das Radio und fing an, in der Bibliothek umher zu spazieren.
Musik ertönte.
»Empfang haben wir schon einmal«, murmelte er vor sich hin. Plötzlich wurde das Musikstück ausgeblendet und eine Männerstimme ertönte:
»Wir unterbrechen unser Programm für eine weitere Eilmeldung. Aus unbekannten Gründen breitet sich ein Wirbelsturm mit Zentrum über Storby immer weiter aus. Das Meteorologische Institut hat eine allgemeine Sturmwarnung herausgegeben. Sichern Sie Fenster und Türen und riskieren Sie nicht ihr Leben, indem Sie unnötig ins Freie gehen. Es liegen bereits Meldungen über umgestürzte Bäume und blockierte Straßen rund um Storby vor. In Schulen und Gemeindezentren werden Notunterkünfte eingerichtet. Im Notfall wählen Sie bitte 112 oder kontaktieren Sie die zuständige Polizeibehörde, die mit der Katastrophenhilfe in ständigem Kontakt steht. Machen Sie, falls vorhanden, Notstrom-Aggregate bereit und treffen Sie Vorkehrungen gegen die extreme Kältewelle, die der Sturm mit sich führt. Ich wiederhole ...«
Eva, Âsa, Jonas und der junge Student sahen einander besorgt an.
»Ich muss mal telefonieren«, murmelte Âsa und zückte ihr Handy. »Kein Empfang!«, stellte sie sofort fest.
»Ich auch nicht«, meldete sich der junge Student zu Wort und sah sich suchend um.
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