Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
großen Augenblick: Die Trauung.
Plötzlich war dem träumenden Mädchen, als würde die Zeit stillstehen. Ein Nebel legte sich über die Gesellschaft, es wurde totenstill. Der König löste sich von seiner Braut und griff nach einem Schleier, der aus den Tiefen der Höhle heran schwebte.
Ein Mann trat zum Brautpaar – es war der Trauzeuge. Sie ergriffen das glänzende Tuch an den Zipfeln und hielten es hoch über dem Kopf der Braut. Wie ein glitzerndes Dach schwebte es über Braut, Bräutigam und Trauzeuge. Mit einem Mal sah das träumende Mädchen das Tuch genauer. Sie war es, die alles beobachtete! Aus einem Winkel hoch oben im Gewölbe.
Im Nebel leuchtete plötzlich eine Lichtquelle auf. Das Licht brach sich in der schuppenartigen Struktur des Schleiers wie im Perlmutt einer Muschel und verschwand genauso unvermittelt, wie es gekommen war.
Fast schwebend bewegten sich der König und der Trauzeuge mit dem Tuch auf die Braut zu. Der Schleier berührte ihre Rückseite und plötzlich war der Bann gebrochen. Der Nebel verschwand, Stimmen kehrten zurück und die Zeit schien nicht mehr still zu stehen. Die Zeremonie ging weiter, als wäre nichts passiert. Und plötzlich wusste sie es. Sie, die alles beobachtete.
Niemand hatte etwas von den seltsamen Geschehnissen mitbekommen.
Nicht einmal der König selbst!
Sie wusste nicht wie, aber sie wusste es! Es gab ein Geheimnis, das gelüftet werden musste. Ein Thronfolger wurde gebraucht. Und zwar überaus dringend.
So dringend! Probleme im Land, Gefahr, Angst, Trauer!
In diesem Moment schlug sie die Augen auf! Sie, Soraya, die alles beobachtet hatte.
Das Mädchen lag in seinem Bett und starrte an die Decke. Schweißgebadet und voller Angst. Es war Träume gewohnt. Viele seltsame Träume. Alpträume nannte ihre Mutter sie.
Aber waren es wirklich Alpträume?
Soraya schüttelte sich und setzte sich auf die Bettkante. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Es tat weh, wenn sie nachdachte. Sie konnte vor lauter Migräne, wie ihr Vater die Kopfschmerzen nannte, dann gar nichts mehr sehen. Alles verschwamm vor ihren Augen und riss ihr gesamtes Denkvermögen mit sich. Soraya war eine Prinzessin. Aber sie wusste nicht, was das war. Ihre Eltern regierten ein Königreich namens Ageria. Aber auch davon wusste Soraya nichts. Ihr Vater, der König, vertrat die Ansicht, dass eine Beule an Sorayas Stirn die Ursache für ihre Andersartigkeit war. Ihre Mutter glaubte jedoch nicht, dass es daran lag.
»Diese kleine Erhebung tut nichts zur Sache«, sagte sie einmal. »Soraya ist ganz einfach nicht normal. Wir müssen uns damit abfinden. Es ist unnötig, sie der Gefahr eines Eingriffs auszusetzen. Leidet sie denn nicht schon genug? Da musst du es mit einer Operation nicht noch schlimmer machen!«
Ihre Eltern sprachen von ihr, als wäre sie Luft. Ihre Eltern schienen der Ansicht zu sein, dass sie sowieso nichts verstehe, da sie geistesgestört sei.
Zurückgeblieben. Behindert.
Diese Worte hatte sie oft gehört. Sie fühlte, dass etwas nicht stimmte. Es war aber alles andere als wahr, dass sie nichts verstand. Denn sie verstand alles. Sie spürte auch, dass die Schmerzen Schuld waren. Sie waren der Grund dafür, dass sie nicht sprach. Niemals. Wenn man sprechen wollte, musste man nachdenken. Und nachdenken tat weh. Wer nicht antwortete, nie jemandem in die Augen sah und einfach nicht bei der Sache war, der verstand auch nichts.
Das dachten alle .
Soraya spürte es. Sie konnte nicht weiter darüber nachdenken. Der Nebel senkte sich dann wie immer und hüllte sie ein. Aber sie hörte alles und bewahrte jedes Wort in ihrem Inneren.
Der König war ein hartnäckiger Mann. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, dass Soraya operiert werden sollte, auch wenn seine Frau nicht einverstanden war. Ihre Mutter hatte Angst, das spürte Soraya. Sie spürte es, so wie sie auch die Hoffnung ihres Vaters spürte. Die Hoffnung, dass Soraya gesund werden würde. Aber sie wusste nicht, was das war.
Gesund.
Sie spürte nur Vaters Hoffnung und Mutters Angst. Und nun war es so weit. Sie spürte, dass sie heute stark sein musste. Nicht nachdenken, das war gefährlich. Das tat weh. Einfach nur ihrem Gefühl, ihrem Instinkt folgen, so wie sie es jeden Tag tat. Soraya schwang ihre Beine aus dem Bett, zog sich bequeme Hosen an, begrüßte Amiro, den Fenriswolf, der wie immer vor ihrer Tür schlief, und lief mit ihm durch die langen, hohen Gänge des Schlosses.
Es war ein prunkvolles, großes Schloss, mit
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