Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
allem was dazu gehörte: Riesige Säle, Säulen mit prachtvollen Verzierungen, Gemälde alter Könige, wertvolle Vorhänge, Diener, Mägde und vieles mehr. Soraya schenkte all dem wie immer keinen einzigen Blick. Sie wusste, dass es das alles gab, aber es war ihr nicht wichtig. Sie sah keinen Wert in all diesen Dingen.
Für alle Menschen im Schloss schien das dünne Mädchen einen festen Tagesablauf zu haben. Sie stand auf und zog sich an. Dann lief sie mit dem Fenriswolf zu den Ställen, holte den Pegasus und ritt in den Wald. Sie kehrte erst abends zurück, aß dann, was immer ihr serviert wurde, und ging zu Bett.
Jeden Tag dasselbe Ritual. Zumindest, seit sie reiten konnte. Davor war sie zu Fuß gegangen. Ihre Eltern hatten sie anfangs jeden Tag bewachen lassen. Wenn sie ihren Wächtern entkam, hatten sie sie suchen lassen. Aber irgendwann verstanden sie, dass Soraya immer zurückkam. Abends. Niemals vorher.
Soraya war fünf Jahre alt. Mit eineinhalb Jahren hatte sie angefangen zu sprechen, hörte aber dann wieder auf. Einfach so. Niemand wusste warum. Außer Soraya selbst. Sie spürte es.
In ihrem Kopf wuchs etwas.
Es war von Anfang an da gewesen. Aber dann fing es an, größer zu werden. Und je größer es wurde, desto mehr nahm es ihr den Platz für Gedanken.
Soraya lief wie immer zum Stall und holte den Pegasus. Behutsam streichelte sie seinen Hals. Der schwarze Hengst beugte sich zu ihr hinab und stupste ihr in die Seite.
Sorayas ruhige und natürliche Art hatte ihre Vorteile. Sie konnte zwar nicht sprechen oder auf für uns normale Weise mit Menschen umgehen, dafür kam sie aber mit allen Tieren gut aus. Bei anderen Menschen war der schwarze Hengst aufgeregt, nervös und ließ sich nur schwer beruhigen.
Soraya hatte es nicht gekümmert, dass er bei ihrem ersten Treffen tänzelte, den Kopf warf und nervös schnaubte. Sie ging einfach auf ihn zu, legte ihre Hand auf seinen Hals und stand da. Lange stand sie so da und blickte durch den Nebel in ihrem Kopf. Sehr lange. Irgendwann stand der Hengst auch einfach nur ruhig da und döste. Dieses kleine Geschöpf dort neben ihm machte gar nichts und das schon seit Stunden.
Der Hengst hatte es aufgegeben, vor Aufregung zu zittern. Und dann war sie einfach losgegangen, ohne den Pegasus anzusehen, ohne einen Laut.
Sie hielt das Führseil am äußersten Ende und ging einfach los. Das Seil war lang, und als es anfing, strammer zu werden, folgte ihr der Hengst. Einfach so. Sie ging mit ihm durch den Wald. Sie ging immer weiter und weiter, den ganzen Tag. Manchmal hielt sie an und pflückte ein paar Blumen oder sah Tieren zu. Dann ging sie weiter. Der Hengst folgte ihr. Von da an jeden Tag.
Sie war damals drei Jahre alt. Irgendwann meinte ihr Vater, sie solle reiten lernen. Der Vater setzte sie täglich auf ein gutmütiges Pony und ließ sie so lange im Kreis reiten, bis es ihr zu langweilig wurde. Anstatt auf ihr Pony kletterte sie eines Tages auf den Rücken des Hengstes und ritt in den Wald.
Seit diesem Tag tat sie dies täglich. Und sie kam immer erst abends zurück. Der Fenriswolf Amiro folgte ihnen auf den Streifzügen. Obwohl alle dachten, Soraya reite einfach nur ziellos durch die Gegend, waren es in Wirklichkeit Streifzüge. Soraya kannte jeden Winkel des Waldes, jedes Dorf in der Umgebung, alle Tier- und Pflanzenarten und auch alle Pilze. Sie kannte den Lauf des Flusses Lorgan, die gefährlichen Plätze und die seichten Stellen, wo man so herrlich baden konnte.
Sie tat vieles, was normale Kinder auch taten. Sie kletterte auf Bäume, spielte mit Amiro, pflückte Blumen und Beeren und sonnte sich am Ufer des Lorgan. Nur darüber nachdenken, das konnte sie nicht. Das tat weh.
An einem wunderschönen, sonnigen Tag ritt Soraya zum Fluss-ufer. Der leichte Wind spielte in ihren langen Haaren. Geschmeidig schwang sie sich vom Pegasus herab und ließ ihn grasen. Soraya legte sich in den warmen Sand und beobachtete Amiro, der sich im Fluss vergnügte. Der Fenriswolf schlabberte ein wenig Wasser, watete triefend nass heraus und schüttelte sein Fell aus. Soraya kniff die Augen zu und wischte sich die Tropfen aus dem Gesicht.
Wolf und Mädchen dösten in der Frühlingssonne vor sich hin, während der Hengst hinter ihnen graste.
Sie musste eingeschlafen sein, denn sie träumte.
Sie sah sich selbst, ein kleines Mädchen von etwa eineinhalb Jahren, das im Schlosspark spielte. Dann war der Nebel wieder da und verschleierte die Geschehnisse. Kein Laut war zu
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