Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
hören. Das kleine Mädchen stolperte auf eine hohe Hecke zu. Je näher es kam, desto langsamer bewegte sich alles, und der Nebel verdichtete sich. Das gleißend helle Licht leuchtete wieder auf. Dieses Mal fielen die Strahlen auf ein seltsames Gebilde. Eine Art Wurm. Nein, es sah fast so aus wie der Schwanz einer Eidechse. Nur größer, viel größer. Und die Schuppen auf der Haut glänzten wie Perlmutt im hellen Licht. Sie sah, wie das Mädchen seine kleine Hand nach dem Gebilde ausstreckte und es berührte. Plötzlich war der Bann gebrochen. Sie hörte, wie ihre Mutter, die Königin, schrie und das Kind mit Gewalt von der Hecke fortriss. Das Kind fasste sich an den Kopf. Es hatte Schmerzen, zum aller ersten Mal in seinem Leben. Etwas Großes erhob sich hinter der Hecke in die Lüfte und schwebte davon. Aber sie konnte nicht erkennen, was es war. Der Nebel war zu dicht.
Soraya riss die Augen auf. Sie lag am Ufer und zitterte. Amiro hatte sich schützend dicht neben sie gedrängt, und der Hengst schnaubte sie durch die Nüstern an. Langsam beruhigte sie sich wieder. Sie kannte diesen Traum, genauso gut wie jenen mit dem glitzernden Schleier. Träumte sie doch täglich die gleichen Träume. Jeden Tag, seit sie denken konnte.
Soraya rappelte sich hoch, klopfte sich den Sand aus den Kleidern und schwang sich auf den Rücken des Pegasus. Sie musste nach Hause, denn heute war ein wichtiger Tag, das spürte sie. Heute durfte sie nicht erst abends heimkehren. Zum allerersten Mal würde sie früher zurückkommen. Es war wichtig, das fühlte sie.
Im Schloss herrschte große Aufregung. Der König war wütend. Er ging umher und schrie und schimpfte.
Wie hatte seine Tochter schon wieder unbemerkt verschwinden können?
Die Wache saß doch direkt vor ihrer Tür!
Eingeschlafen? Unmöglich! Das konnte doch wohl nicht wahr sein! So etwas gehörte bestraft!
Das ganze Schloss suchte nach ihr, nach Soraya, die heute operiert werden sollte. Der Magier, ein Raidho, wartete schon im Empfangssaal, um sie abzuholen.
Nur die Königin suchte nicht. Sie saß still in ihrem Sessel und betete: »Hoffentlich finden sie sie nicht.«
Mit vor Angst geweiteten Augen saß sie da.
Am Kopf operieren! Ihre kleine, hilflose Tochter! Was, wenn ihr etwas passierte! Was, wenn sie dabei starb?
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und ihre Hände zitterten.
Soraya fasste sich an die Stirn, die Schmerzen nahmen zu. Das passierte manchmal einfach so, ohne einen bestimmten Grund. Sie biss die Zähne zusammen. Sie durfte nicht im Nebel versinken, bewusstlos werden.
Nicht heute, es war zu wichtig! Sie musste weiterreiten.
Sie ließ dem Hengst lange Zügel und klammerte sich an seiner Mähne fest.
Bring mich nach Hause , dachte sie. Bitte bring mich zum Schloss.
Der Nebel in ihrem Kopf wurde fast schwarz.
An der Schlossmauer kamen ihr Reiter entgegen. Ihre Stimmen schienen weit entfernt, als Soraya sie rufen hörte.
»Dort ist sie! «
»Was ist mit ihr? Ist sie krank?«
»Fang sie auf, sie fällt vom Pegasus!«
Soraya spürte, wie zwei starke Hände sie fassten und forttrugen. Dann hörte sie ihren Vater.
»Sie ist wirklich von allein zurückgekehrt? Als ob sie wüsste, dass es heute wichtig ist.«
Flüsternd streichelte er ihr Haar.
Eine fremde Stimme erklang:
»Wir müssen sofort los. Es ist ernst. Hoffentlich habt ihr es nicht zu lange hinausgezögert.«
Dann hörte Soraya schnelle Schritte und die ängstliche, bettelnde Stimme ihrer Mutter.
»Nein, nein! Lasst sie in Ruhe! Ihr dürft ihr nicht wehtun!«
Sorayas Kopfschmerzen wurden wieder stärker, und mit letzter Kraft riss sie die Augen auf. Sie starrte direkt in jene ihrer Mutter. Zum allerersten Mal sah sie jemandem direkt in die Augen und hielt dem Blick stand.
Bitte, Mama , flehten ihre Augen. Lass mich gehen!
Erschrocken starrte die Königin zurück.
Ihre Tochter nahm Kontakt auf. Zu ihr! Zum ersten Mal.
»Was will sie von mir?«, flüsterte sie überwältigt. Ihre Hand suchte nach der Hand ihres Gemahls. Sie konnte ihren Blick nicht von ihrer Tochter losreißen.
»Was will sie?«
Der König drückte sanft die zitternde Hand seiner Frau.
Mit ruhiger Stimme fragte er:
»Was sagt dir dein Herz, Samira? Was fühlst du?«
Die Königin starrte weiter in die Augen ihrer Tochter. Was Soraya vermitteln wollte, war mehr als deutlich. Samira fühlte, dass ihre Tochter gehen wollte.
Aber ich habe doch solche Angst um sie!
Unvermittelt riss sich die Königin los und
Weitere Kostenlose Bücher