Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
des Raidhos.
Sie spürte große Angst und Schmerzen bei seinem Anblick, aber auch Hoffnung. Hinter ihm, im Nebel, stand etwas Großes, Gewaltiges. Es sah aus wie ein riesiges, schuppiges Wesen, aber das Mädchen konnte nicht erkennen, was es war. Plötzlich spürte das Mädchen, dass es allein war. Allein mit diesem Raidho und diesem Ding! Wo waren ihr Vater und ihre Mutter? Das kleine Mädchen weinte und zitterte. Es fühlte sich so allein!
Soraya starrte den Mann, der aus dem Schatten zu ihr getreten war, mit vor Schreck geweiteten Augen an. Sie begann vor Aufregung zu schwitzen. Erst sah der Alte sie einfach nur an, doch dann bedeutete er dem Vater, ihm nach draußen zu folgen. Soraya hörte die Männer sprechen:
»Sie ist noch sehr schwach, aber sie wird es schaffen. Du musst Vertrauen haben, mein Freund. Das Vertrauen in die Macht des Amuletts ist der Schlüssel zu deiner Tochter.«
Sie hörte den Vater seufzen.
»Samira hat das Vertrauen vor langer Zeit verloren. Sie gibt dem Amulett die Schuld an Sorayas Zustand. Sie gibt ihm die Schuld an all unserem Unglück.«
»Ohne das Amulett wäre Soraya nicht mehr am Leben, mein Freund. Ich habe es dir damals gesagt und ich sage es heute noch einmal. Dieses Amulett wurde geschaffen, um die Thronfolgerin zu schützen, und es hat seine Aufgabe mehr als gut erfüllt!«
Der König wollte widersprechen, doch der Raidho hob abwehrend die Hand.
»Der Zauber des Amuletts ist sehr stark, doch gegen das eigene Blut zu kämpfen …«
»Also, nun gehst du aber zu weit, Altair!«, protestierte der König.
»Oh nein, mein Freund, ganz und gar nicht. Ich habe Nachforschungen angestellt. Die Runen erzählen es mir! Samira ist schuld an Sorayas Zustand. Aber sie ist nur das Werkzeug von etwas viel Dunklerem. Es gibt einen Feind, womöglich in den eigenen Reihen, der über die üblichen Grenzen der Magie hinaus agiert. Er hat die Ängste der Königin für seine Zwecke missbraucht. Die Angst einer liebenden Mutter um ihr Kind beherbergt enorme Kräfte, und genau diese Kräfte wurden ohne ihr Wissen fehlgeleitet. Ihr Wunsch zu schützen, verwandelte sich in den Zwang zu kontrollieren.«
»Nein«, hauchte der König ungläubig und verzweifelt.
Altairs Stimme wurde härter.
»Weißt du, mein Freund, was ich aus der Stirn deiner Tochter entfernt habe?«
Soraya konnte nicht sehen, was der Raidho seinem Vater zeigte, doch der Ausruf des Entsetzens klang zu ihr hinüber. Dann brach die Stimme ihres Vaters:
»Oh, Eir habe Erbarmen! Samira … meine eigene Frau!«
»Vergiss nicht«, mahnte Altair, »dass sie unwissend ist und immer nur das Beste für eure Tochter wollte. Nun, da der Fluch gebannt ist, kann das Amulett seine Kräfte entfalten. Habe Vertrauen in seine Kraft.«
Soraya lag in ihrem Bett und dachte nach.
Vertraue in die Kraft des Amuletts, hatte der Mann gesagt. Was für ein Amulett? Und wer war dieser Mann? Wieso hatte sie Angst vor ihm, obwohl er doch eindeutig zu ihr hielt?
Wenn sie es sich genau überlegte, hatte sie eigentlich gar keine Angst vor ihm. Das kleine Mädchen im Traum hatte Angst vor ihm gehabt. Aber das kleine Mädchen war sehr jung gewesen. Nicht einmal zwei Jahre alt, und es hatte sich sehr alleine gefühlt. Ganz alleine, mit einem fremden Mann. Es hatte nicht gewusst, wo es sich befand und was der Mann wollte.
Kein Wunder, dass ich Angst hatte , dachte Soraya, und sie beschloss, dem Mann zu vertrauen.
Plötzlich erstarrte Soraya.
Sie hatte nachgedacht!
Ohne dass der Nebel sich auf sie herabgesenkt hätte, ohne dass es dunkel geworden wäre und ohne dass es wehgetan hätte!
Was war hier nur los? Was war mit ihr passiert?
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ein Gefühl von Erleichterung durchströmte ihren Körper, aber auch ein Gefühl von Unsicherheit. Denn nachdenken zu können, bedeutete Probleme lösen und Entscheidungen treffen zu können.
So etwas hatte sie noch nie getan. Sie hatte es auch noch nie versucht, da sie noch nie nachdenken durfte . Nachdenken hatte immer wehgetan. Dann fiel ihr ein, dass sie gerade eine Entscheidung getroffen hatte. Ihre allererste Entscheidung. Sie hatte entschieden, diesem Mann, vor dem das kleine Mädchen solche Angst gehabt hatte, zu vertrauen. Soraya wurde unsicher.
War es die richtige Entscheidung?
Hatte sie, die sie keine Übung im Nachdenken hatte, die richtige Lösung gefunden?
Es war ein Gefühl , dachte sie. Ein Gefühl, dass es richtig sein musste. Doch konnte sie ihrem Gefühl
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