Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
Fackel brannte an der Wand. Tora saß über ihren Bruder gebeugt und wischte ihm den Fieberschweiß von der Stirn. Kunar war blass und warf sich unruhig hin und her. Vermutlich litt auch er unter Albträumen. Charlie ging näher.
Die meisten Wunden hatten zu heilen begonnen, doch einige waren böse entzündet – vermutlich der Grund für sein anhaltendes Fieber.
Einmal traf Charlie Tora an, wie sie völlig gedankenversunken neben Kunars Bett saß und Wache hielt. Sie hatte Charlie nicht kommen hören. Es war, als ob sie in ihren Gedanken weit, weit fort gewesen wäre.
»Geh schlafen, Tora«, sagte Charlie. Tora zuckte zusammen und drehte sich zu ihr um. »Ich passe solange auf Kunar auf. Du musst müde sein …«, fuhr Charlie fort. Doch dann erregte etwas in Toras linker Hand ihre Aufmerksamkeit. Eine kleine Amphore.
»Was hast du da?«, fragte sie etwas zu schroff. Tora schob verärgert das Kinn vor.
»Etwas, das ich schon lange hätte tun sollen!«, antwortete sie in eindeutiger Verteidigungsstellung.
»Du hast … aber wo hast du es her?« Charlie war hin- und hergerissen zwischen Empörung über Toras Vorhaben und der Frage, woher das Behältnis stammte. Es war ein Schwarzelfenfass. Und wenn es Charlie nicht ganz gewaltig täuschte, handelte es sich um eine der Amphoren mit ihrer Gefühlsmedizin.
Doch weshalb lag sie nicht mit den anderen Dingen in dem Elfentuch auf dem Grunde des Hvergelmers?
Nachdem Tora erfahren hatte, dass alle ihre Habseligkeiten für immer verloren waren, vermieden sie beide das Thema und widmeten sich voll und ganz Kunars Genesung. Es war zu schmerzhaft, darüber zu reden.
Was sollte es auch bringen?
Das verlorene Elfentuch zu betrauern, brachte ihre Sachen nicht zurück. Außerdem erinnerte der Verlust nur an ihre schwierige Lage.
Ohne ihre Sachen würde die Reise nach Jättehem extrem schwer werden. Doch solange Kunar nicht gesund war, war an einen Aufbruch sowieso nicht zu denken. Zum Glück hatte Charlie die blauen Kontaktlinsen in einem kleinen Seidenspinnerbeutel in ihrer Manteltasche aufbewahrt und ihn nicht mit all den anderen Sachen in Duvas Elfenkoffer verstaut. Ohne die Linsen hätten sie gleich wieder umkehren können. Eine Reise nach Godheim wäre dann von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Genauso gut hätten sie sich Odens Bärsärkern freiwillig ausliefern können.
»Woher?«, wiederholte Charlie.
Tora ließ sich auf den Stuhl neben Kunars Krankenbett fallen.
»Ich habe es bereits zu Beginn unserer Reise … hm … an mich genommen, rückte sie langsam mit der Sprache heraus. »Als ich all unsere Dinge im Elfenkoffer verstaut habe. Die Wintermäntel und so …« Tora hatte so viel Arbeit in diese Mäntel gesteckt. Charlie seufzte und setzte sich an Kunars Fußende.
All ihre schönen und wichtigen Dinge … die Bücher … Diese verflixten Marmenillen!
Charlies Blick fiel wieder auf die Amphore.
»Aber du hast nicht …?«
»Doch«, sagte Tora. »Oder warum glaubst du, weshalb Kunar so langsam zugänglicher geworden ist?« Charlie saß sprachlos am Fußende und starrte Tora an.
»Du hast … ohne sein Wissen?« Tora nickte und betrachtete Kunar, der langsam ruhiger wurde. Sein gequältes Gesicht entspannte sich und er atmete ruhiger.
»Die Idee hatte ich schon lange, aber …«, druckste sie herum und strich ihrem Bruder eine feuchte Strähne aus dem Gesicht. Charlie wartete aufgebracht auf eine Erklärung.
»Es passte doch …«, sagte Tora. »Deine Medizin aus dem Lindwurmblutskraut. Du hast gesagt, sie hilft einem zu sich selbst zu finden, wenn man sein Ich verloren hat. Und das ist es doch, was mit Kunar passiert ist!« Tora redete sich in Fahrt, als ob sie sich und ihre Machenschaften dadurch verteidigen konnte.
»Aber es hat nicht geholfen, oder?«, fragte Charlie barsch. »Jedenfalls nicht so wie bei dir, Tora. Du warst danach geheilt.«
Toras Augen blitzten ärgerlich.
»So war es nicht«, zischte sie. »Was glaubst du denn? Dass ich ihm die volle Dosis verpasst habe? Für wie blöd hältst du mich? Kunar durfte nichts merken. Er wäre stinksauer auf mich gewesen!«
Also doch , dachte Charlie. Tora war sich durchaus darüber im Klaren, dass Menschen nicht gegen ihren Willen beeinflusst werden durften. Und trotzdem hat sie nicht einmal in Erwägung gezogen, Kunar nach seiner Meinung zu fragen.
»Du hättest ihn fragen müssen!«, sagte Charlie bestimmt. Tora schnaubte wieder.
»Als ob er in der Stimmung gewesen wäre, von
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