Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
irgendjemandem Hilfe anzunehmen! Du weißt doch selbst, wie er sich vor jedem und allem entfernt hatte!« Charlie schwieg.
»Ich habe damit angefangen, als wir loszogen«, fuhr Tora mit ihrer Erklärung fort, als sie merkte, dass sich Charlie weitere Kommentare verkniff.
»Ich gab jeden Tag einen winzigen Tropfen in seine Wasserflasche. Ich dagegen habe damals einen ordentlichen Schluck von deiner neuen Medizin genommen, und außerdem hatte Biarn mich vorher schon darauf vorbereitet!«
Charlie erinnerte sich gut daran, dass Biarn Tora ihre Gefühle genommen hatte und sie ihr häppchenweise zurückgegeben hatte, um ihr Zeit zu geben, sie zu verarbeiten.
»Kunar hat gar nicht erst versucht, seine Welt wieder in Ordnung zu bringen«, sagte Tora ärgerlich und blickte zu ihrem Bruder. »Die geringe Dosis hat zwar etwas bewirkt, aber es ging schleichend langsam.«
Charlie konnte förmlich fühlen, wie schwer es Tora gefallen war, die Dosis nicht zu erhöhen und somit das Ganze zu beschleunigen. Beherrschung war beileibe nicht Toras Stärke, aber sie hatte sich gezügelt.
Biarns Unterricht hatte offenbar Früchte getragen.
Trotz ihrer Empörung konnte Charlie nicht umhin, Tora ein wenig Anerkennung zu zollen.
»Durch die geringe Dosis hast du ihm vermutlich die Zeit gegeben, die er brauchte, um selbst hinter seine Probleme zu kommen«, meinte sie.
»Es hat aber nicht gereicht, oder?«, platzte es aus Tora heraus. »Nur jemand, der nicht ganz bei Sinnen ist, schnappt sich ein Boot und rudert einfach drauflos!«, wetterte sie. »Das ist doch nicht Kunar! So etwas Unüberlegtes macht er doch nicht! Ich , ja, ich kann unbeherrscht handeln, aber Kunar doch nicht! Er ist einfach nicht mehr er selbst! Und jetzt eben, in seinem Fieberwahn, hat er ständig nach Hanna gerufen und dann hat er immer wieder davon erzählt, dass er tot sein will, dass sein Leben nichts wert ist und all solch schrecklich dummes Zeug.«
Toras Stimme zitterte und ein Schluchzen entfuhr ihrer Kehle. Wie ein Häufchen Elend hockte sie von ihrem weiten Rock umgeben auf den alten Holzdielen des kleinen Zimmers. Eine Weile war es unendlich still. Lediglich Kunars ruhige Atemzüge waren zu hören.
»Ich habe ihm die ganze Amphore eingeflößt«, rückte sie schließlich mit der Sprache heraus. »Ich habe es nicht mehr ausgehalten.« Ihre Stimme klang ganz leer.
Charlie wagte kaum zu atmen.
»Ich hatte das Gefühl, dass er nicht mehr kämpft, nicht zurück ins Leben will, und dass das Fieber deshalb nicht zurückgeht …«
Charlie räusperte sich, unfähig, etwa Sinnvolles zu sagen.
»Ich habe Angst, dass ich es noch schlimmer gemacht habe«, flüsterte Tora so leise, dass Charlie es kaum hören konnte.
Charlie sah zu Kunar hinüber. Es schien ihm nicht schlechter zu gehen. Sie erhob sich vom Fußende und fühlte seine Stirn. Sie war warm, aber nicht mehr glühend heiß. Das Fieber war etwas zurückgegangen.
»Schlimmer ist es jedenfalls nicht geworden«, sagte Charlie nüchtern. Tora erhob sich.
»Nein, wahrscheinlich nicht«, antwortete Tora. »Aber jetzt ist mein Vorrat leer, und die anderen Amphoren liegen auf dem Grund des Hvergelmers.«
Dagegen konnte Charlie kaum etwas sagen. Beide schwiegen eine Weile und hielten neben Kunar Wache.
Sie mussten eingeschlafen sein, denn als Charlie die Augen öffnete, kitzelte die Morgensonne ihre Nase. Sie musste niesen. Tora fuhr mit einem Ruck in die Höhe und rieb sich verwirrt die Augen.
»Zwei schöne Frauen im Bett. Der Traum eines jeden Mannes«, sagte eine etwas schwache und sehr raue Stimme.
Charlie sprang vom Bett hoch und musterte Kunar.
Er war blass, von Wunden übersät, aber er grinste sie eindeutig an. Charlie starrte ihn eine Weile unschlüssig an, als wartete sie darauf, dass es sich als Trugbild erweisen würde, dann zuckte es in ihren Mundwinkeln.
Wann hatte Kunar sie das letzte Mal so freundlich angesehen?
Sie hatte fast vergessen, dass er dazu fähig war. Tora hechtete über das Bett und stürzte sich in Kunars Arme. Sie schluchzte hemmungslos und brachte nur unzusammenhängende Worte hervor.
Kunar hob mühsam eine Hand und streichelte seiner Schwester beruhigend das Haar. Er sah Charlie in die Augen.
»Danke«, sagte er leise. Charlie nickte. Er brauchte nichts zu erklären. Kunar wusste, dass sie ihm das Leben gerettet hatte, indem sie ihm aufs Hvergelmer hinaus gefolgt war.
Sie lächelte erleichtert, dann entfernte sie sich und schloss die Tür hinter sich. Die
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