Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
eingefassten Gewölbe um einen Platz, in dessen Mitte sie einen Ziehbrunnen mit steinernem Becken und eisernem Bogen erkennen konnten, bis ein Torbogen sie in den größeren der beiden Kreuzgänge und den alten Klostergarten entließ. An den aus roten Ziegeln gemauerten Wänden reihten sich Gedenktafeln, die zu den Grüften gehörten, auf deren Deckplatten sie gerade entlangschritten. Über den Kreuzgang ragte der Kirchturm von San Michele auf.
»Das Kloster San Michele haben Kamaldulensermönche im 13. Jahrhundert gebaut. Als Napoleon Venedig eroberte, hat er es wie die meisten Klöster schließen lassen«, erzählte Luciano Clarissa, während er sie über ein großes Gräberfeld führte. »Er hat auch verfügt, dass keine Toten mehr auf den Campi der Pfarrkirchen beerdigt werden dürfen, was vielleicht kein schlechter Beschluss war. Venedig ist eine Stadt im Wasser! Deshalb wurde San Michele aufgeschüttet und rundum mit einer Mauer befestigt, um die Gräber vor Hochwasser zu schützen.«
Sie schritten unter Zypressen die Hauptachse des Friedhofs entlang. Clarissa reckte immer wieder den Kopf und sah sich suchend um. »Und wo ist jetzt Venedig?«, fragte sie enttäuscht.
»Komm, ich zeig es dir.« Luciano nahm ihre Hand und lief mit ihr den Mauerring aus rotem Ziegelstein entlang, bis man zur Stadt hinübersehen konnte. Clarissa ließ den Blick über das Wasser Richtung Süden schweifen und hielt den Atem an. Im Licht des klaren Sternenhimmels wuchsen dort Häuser dicht an dicht direkt aus der Lagune empor, unterbrochen von Kanälen. Die Silhouette einer mächtigen Kirche mit einer kleinen Kuppel erhob sich über die Dächer und mehrere schlanke Glockentürme ragten in den Nachthimmel. Einige davon schienen ihr bedenklich schief zu stehen, sodass man fürchten musste, sie könnten jederzeit mit einem letzten Seufzer in sich zusammenfallen.
»Ist es nicht unglaublich? Eine Märchenstadt im Wasser. So etwas gibt es auf der Welt kein zweites Mal. Es wird dir hier gefallen«, sagte Luciano nach einer Weile. »Wir werden uns in der Stadt ein schönes Haus suchen, und dann können wir jede Nacht zusammen genießen. Venedig ist zwar heute nicht mehr die mächtigste Handelsrepublik zur See und die goldene Zeit der Stadt ist lange vorbei, aber ihr Glanz ist noch immer zu spüren. Die Menschen lassen sich ihre Lebenslust nicht nehmen. Angeblich gibt es keine Stadt in ganz Europa, in der man besser zu genießen und zu feiern weiß. So habe ich es zumindest gelesen. Ich bin nicht unvorbereitet mit dir hierhergefahren!«
»Genießen und feiern«, wiederholte Clarissa, während sie sich umsah. »Selbst das eigene Begräbnis scheinen sie zum prachtvollen Schauspiel zu machen.«
Sie kehrten um und gingen zu den Klostergebäuden zurück, liefen noch einmal durch den großen Kreuzgang und gelangten auf der anderen Seite zu einem Tor, das sie hinunter zu einem Anleger führte. Schwarzes Wasser plätscherte zu ihren Füßen. Es stand so hoch, dass die Wellen immer wieder den Rand der Planken überspülten. Rechts und links vom Steg waren schwere Eichenstämme in den weichen Lagunenboden gerammt worden, an denen die Trauergondeln und die Boote der Besucher festmachen konnten.
Luciano ging auf ein schlankes Boot zu, das am Ende des Stegs vertäut war.
»Komm, lass uns hinüberfahren. Ich kann es kaum erwarten, die berühmte Stadt kennenzulernen.« Er sprang ins Boot, griff mit der einen Hand nach dem Ruder und streckte die andere Clarissa entgegen. »Komm!«
Clarissa ging auf ihn zu. Sie bemühte sich zu lächeln, raffte ihren Rock mit der einen Hand und wollte gerade ihren Fuß auf die schwarz lackierten Planken der Gondel stellen, als sie zusammenzuckte. Mit einem Schmerzensschrei fuhr sie zurück.
»Was ist das?«, rief sie. »Ich kann nicht auf dieses Boot.«
Luciano ließ ihre Hand los. »Es ist die Flut, die dir Schmerzen bereitet. Vampire können Küstengewässer nur im Wendepunkt der Gezeiten queren. Aber du kannst dagegen ankämpfen. Komm, versuch es noch einmal!«
Zaghaft näherte sich Clarissa der Gondel, doch als ihr Fuß die Planke des Boots berührte, zuckte ihr Körper, wie von einem Blitz getroffen, und sie taumelte stöhnend zurück.
»Ich kann nicht!«
Luciano sah sie betroffen an. »Ist es wirklich so schlimm?«
»Ja, es ist schlimm! Es tut weh und ich kann nicht einfach dagegen ankämpfen «, rief sie und funkelte ihn an. »Wie hast du dir das vorgestellt?« Ihre Hand wies anklagend über das Wasser
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