Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Giulia den ersehnten Nachwuchs zeugen. Er würde mit Clarissa weggehen – Rom für immer verlassen.
Nur wohin? In Hamburg würden die Nosferas als Erstes nach ihm suchen. Nein, er musste einen anderen Ort finden, einen Ort, an dem er sicher war vor den Nachstellungen seines eigenen Clans.
***
Die Sonne versank im alten Land hinter der Elbe und die Nacht legte sich über Hamburg. Alisa schlug die Augen auf. Sie musste ihre Hand nicht über den freien Platz neben sich wandern lassen, um zu wissen, dass sie allein in dem geräumigen Sarg lag, den Hindrik ihnen gezimmert hatte.
Er könne nicht immer nur Modellschiffe bauen, hatte er mit einem Augenzwinkern gemeint und sich ans Werk gemacht. Das Ergebnis konnte sich wirklich sehen lassen. Nicht nur, dass der Sarg zwei Vampiren bequem Platz bot, um sich während des Tages zurückzuziehen, Hindrik hatte ihn auch mit kunstvollen Einlegearbeiten verziert und das rötliche Holz poliert, bis es samtig schimmerte.
»Betrachte es als Hochzeitsgeschenk«, hatte er Alisa mit einem Lächeln zugeflüstert. Sie hatte ihm gedankt und ein wenig verlegen den Blick abgewandt.
Nun aber lag sie wieder einmal allein in ihrem Sarg und fragte sich, wie Leo es immer schaffte, vor ihr aufzuwachen. Dabei hatte sie sich am Morgen, kurz bevor sie in ihre Todesstarre gefallen war, ganz fest vorgenommen, dieses Mal noch vor dem Sonnenuntergang aufzuwachen.
Da ahnte sie seinen Schritt. Sie konnte ihn nicht hören, denn er bewegte sich so lautlos wie alle Vampire, doch Alisa spürte seine Nähe. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, als er den Deckel hob und auf sie herabblickte.
»Ausgeschlafen?«
Alisa richtete sich mit einem ärgerlichen Kopfschütteln auf. »Wie machst du das nur?«, beklagte sie sich. Sie sah ihn an. Wie jeden Abend fragte sie sich, wie es möglich war, dass der schönste Vampir Europas sich ausgerechnet in sie verliebt hatte. Sie konnte sich noch immer nicht sattsehen an seinem inzwischen markanter gewordenen Gesicht, den dunklen Brauen und Wimpern und dem ebenfalls dunkelbraunen Haar.
Leo lächelte ein wenig selbstzufrieden. »Talent und ein wenig Übung, mein Herz«, beantwortete er ihre Frage in seinem arrogantesten Tonfall, der sie jahrelang zur Weißglut gebracht hatte, nun jedoch schüttelte sie nur den Kopf und sah ihn tadelnd an.
Leo grinste. »Ich mach das einzig und allein, um dir deine geliebte Zeitung an den Sarg bringen zu können.«
Er hielt ihr eine Ausgabe der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung und der Altonaer Nachrichten hin.
»Damit du stets informiert bist, was die Menschen so treiben.«
»Danke. Das ist für uns alle wichtig«, beharrte sie, während sie nach den beiden Zeitungen griff. »Du solltest sie ebenfalls lesen.«
Leo zuckte nur mit den Schultern und reichte ihr die Hand, um ihr aus dem Sarg zu helfen. Nicht, dass sie dies nötig gehabt hätte, doch sie nahm die galante Geste so, wie sie gemeint war. Rasch schlüpfte Alisa in ihr Kleid und ließ sich von Leo die Bänder am Rücken schnüren. Sie kämmte ihr langes blondes Haar, das im Licht einer Lampe wie Kupfer schimmerte, und steckte es mit ein paar Nadeln auf. Dann verließen sie den Raum unter dem Dach des hohen Speicherbaus und eilten die Treppe hinunter in den zweiten Stock, in dem sich die Vamalia eine Art Salon eingerichtet hatten, der sich über die gesamte Fläche erstreckte, nur unterbrochen von einigen Stützbalken. Leo und Alisa traten auf ein Sofa zu, auf dem es sich Chiara und Sören bequem gemacht hatten. Wieder einmal bewunderte Alisa Chiara de Nosferas ’ ausgeprägt weibliche Formen und ihre üppigen schwarzen Locken, die sie ihr ab und zu ein wenig neidete. Sören wirkte dagegen mit seinem blonden Haar und den grauen Augen eher farblos.
Chiara hielt Sörens Hand und sah ihn verliebt an, doch als sie Alisa und Leo bemerkte, wandte sie sich den beiden zu.
»Einen schönen guten Abend, ihr zwei. Wollt ihr euch zu uns setzen?«
Alisa schüttelte den Kopf. »Wir erkunden lieber, was es in der Stadt Neues gibt. Vielleicht gehen wir ins Theater oder schmuggeln uns in einen der Literarischen Salons, von denen in den Villen an der Elbchaussee so einige stattfinden. Außerdem habe ich gehört, dass der neue Luxusdampfer der Lloyd heute in Hamburg vor Anker gegangen ist. Den könnten wir uns ansehen. Wollt ihr mitkommen?«
Chiara kuschelte sich in die weichen Kissen. »Kannst du nicht einfach mal still sitzen und genießen? Alisa, du bist wie ein Irrlicht. Immer musst du
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