Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
schritt die beiden Kreuzgänge ab. Immer wieder blieb sie stehen und versuchte, die Inschriften der Grabplatten zu entziffern. Diese Gräber waren jedenfalls deutlich älter als die Anlage des Friedhofs. Aus den Ritzen der Marmorplatten zu ihren Füßen stieg längst kein Verwesungsgeruch mehr. Es roch nur noch feucht nach Herbst und ein wenig nach dem Staub der alten Steine und Knochen. Doch plötzlich drang ihr etwas anderes in die Nase. Jetzt hörte sie ein Geräusch. Leise. Sehr leise. Flinke Schritte, die nicht von einem Tier stammten.
Sie war nicht allein auf der Friedhofsinsel. Außer ihr trieb sich hier noch jemand herum, der außerordentlich lebendig war und sicher kein Geist.
Sie sog die Luft prüfend ein und ließ sie dann langsam wieder entweichen. Verwirrt runzelte Clarissa die Stirn. Sie war inzwischen sehr wohl in der Lage, die Fährte eines Menschen zu erkennen, doch dies roch anders. Und auch die leisen Schritte passten eher zu einem Vampir als zu einem Menschen.
Dennoch war sich Clarissa sicher, dass es kein Vampir war. Sie kannte mittlerweile die Witterung aller Vampirclans. Dieser Geruch passte zu keinem von ihnen.
Da erhaschte sie eine Bewegung am Rande ihres Blickfelds und wandte rasch den Kopf. Ein rötlicher Schimmer, der jeden warmen Körper begleitet, tauchte zwischen den Zypressen auf und verschwand sogleich wieder.
Also doch ein Mensch? Mit frischem, warmem Blut. Sie leckte sich unwillkürlich über die Lippen. Es war schon viel zu lange her, dass sie das letzte Mal Blut zu sich genommen hatte.
Gier und Angst lieferten sich einen Kampf in ihr, bis schließlich der Hunger siegte. Sie wusste, dass ihre Schritte lautlos waren und ihre Gestalt mit den nächtlichen Schatten verschmolz. Sie würde nicht entdeckt werden, wenn sie es nicht wollte – das behauptete Luciano zumindest und sie wollte ihm gern glauben.
Vorsichtig näherte sie sich der Stelle, an der sie den warmen Schimmer gesehen hatte. Sie lauschte, konnte aber nichts hören. Aufmerksam sah sich Clarissa um und witterte in alle Richtungen. Obgleich sie die Spur nicht wirklich riechen konnte, hatte sie das Gefühl, sie würde nach links führen, und da erhaschte sie weiter vorn auch wieder den warmen Schein. Sie eilte hinterher, nun von brennender Gier getrieben.
Durfte sie das überhaupt?
Aber ja, sie war jetzt ein Vampir, und Vampire nährten sich vom Blut der Menschen. Sie würde ja niemanden töten, versuchte sie, sich zu beruhigen, und dennoch regte sich etwas wie ein Gewissen in ihr. Der letzte Nachhall dessen, was sie einmal gewesen war, ehe sie zum Vampir geworden war. Ein Mensch, eine junge Frau, die hoffnungsvoll auf das Leben blickte, das vor ihr zu liegen schien und das dann so unerwartet zu Ende gegangen war.
Clarissa schob ihre Erinnerungen beiseite und konzentrierte sich auf die Gestalt vor sich. Sie war ihr näher gekommen und konnte nun erkennen, dass es zwei waren, die beide lange schwarze Umhänge mit Kapuzen trugen. Sie sah nur, dass eine der beiden groß und breitschultrig, die andere dagegen mehr als einen Kopf kleiner war und sehr schmal wirkte.
Wohin gingen sie und was hatten sie vor? Clarissa fiel wieder auf, wie leise sie sich bewegten. Das entsprach so gar nicht dem schweren Schritt der Menschen. Es war eher ein Gleiten und Fließen.
Sie ließen den Garten hinter sich und passierten den Kreuzgang. Wollten sie zur Kirche? Lebten hier etwa doch noch Brüder des von Napoleon aufgelösten Ordens?
Nein, das waren keine Mönche und sicherlich wollten sie in der Kirche nicht um ihr Seelenheil beten!
Unvermittelt hielten sie inne und wandten sich zu ihrer Verfolgerin um. Clarissa blieb ebenfalls stehen. Sie war überzeugt, nicht bemerkt werden zu können, und doch spürte sie die unter den Kapuzen verborgenen Augen auf sich, als würde sie im hellen Licht stehen. Hastig fuhr Clarissa zurück und verbarg sich hinter dem Stamm einer Zypresse. Sie sah, wie die beiden Schemen die Köpfe zusammensteckten, doch sie konnte ihre Stimmen nicht hören. Schließlich wandten sie sich wieder um und schritten langsam auf das Kirchenportal zu. Dort verharrten sie noch einmal, ohne sich umzudrehen, ehe sie die Tür öffneten und im dunklen Kirchenschiff verschwanden. Die Tür fiel mit einem dumpfen Geräusch hinter ihnen ins Schloss.
Clarissa wartete noch einige Augenblicke, ehe sie zur Kirche hinüberhuschte. Sie überlegte, ob sie den beiden Gestalten in die Kirche hinein folgen sollte. Konnte sie das
Weitere Kostenlose Bücher