Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
dich rudern«, bot er Nicoletta an. »Ich könnte mir vorstellen, dass deine Kräfte am Erlahmen sind.«
Nicoletta widersprach, doch es war allen dreien bewusst, dass Tammo die Wahrheit gesagt hatte.
»Nun gut«, stimmte sie zu. »Ich bringe dich zur Punta della Dogana, dort wirst du aussteigen und mir nicht folgen, wenn ich weiterfahre.«
Clarissa sah eine neue Verletzlichkeit in Tammos Miene.
»Willst du mich denn nicht wiedersehen?«
Auch in Nicolettas Gesicht war nun Schmerz zu sehen. »Doch, natürlich. Aber wie soll das gehen? Die Oscuri wollen und werden euch aus Venedig vertreiben. Wie könnte es da mit uns weitergehen?«
»Ich lasse mich nicht vertreiben, von niemandem! Auch nicht von ein paar diebischen Schemen. Du musst es nur wollen.«
Nicoletta kämpfte sichtlich mit sich, doch sie erwiderte nichts. »Lass uns fahren«, sagte sie schließlich.
Tammo wandte sich an Clarissa. »Ich komme wieder. Versprichst du mir, dass du dann noch hier bist?«
Clarissa sah ihn lange an, ehe sie kaum merklich nickte. Sie fragte ihn nicht, wann er zurückkommen würde. Sie würde warten und hoffen.
Worauf?
Dass die schwarzen Krusten sich in ebenso hässliche Narben verwandeln würden?
Vielleicht hatte sie den rechten Zeitpunkt, alles zu beenden, verpasst. Vielleicht hatten die Sonnenstrahlen auch ihren Mut und ihre Entschlossenheit verbrannt.
Tammo trat auf sie zu, nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen. »Nicht verzweifeln. Es gibt für alles eine Lösung. Und wenn wir dich bis nach Irland bringen müssen.«
»Irland?« Sie blinzelte verwirrt.
»Dort lebt die mächtige Druidin Tara – Ivys und Seymours Mutter. Sie hat auch ihren Sohn den Werwolf geheilt, als ihn eine silberne Klinge verletzt hat und es keine Hoffnung für ihn zu geben schien.«
Dann wandte er sich ab und schritt an Nicolettas Seite in die Nacht hinaus.
Wie hat er sich verändert, dachte Clarissa voller Staunen. Es ist, als sei er über Nacht reifer geworden. Erwachsen.
Seine letzten Worte drängten sich in ihren Geist, und sie konnte es nicht verhindern, dass Hoffnung in ihr aufkeimte. Ein winziges Pflänzchen, das seine Triebe durch Schutt und Asche bohrte.
***
Tammo ruderte auf die Stadt zu, deren Lichter nach und nach verloschen. Nicoletta saß am Bug und starrte stumm ins Wasser. Tammo hätte sich gern mit ihr unterhalten, doch er wusste nicht so recht, wie er es beginnen sollte.
Plötzlich drehte sie sich zu ihm um. Sie sah ihn mit schmerzerfülltem Ausdruck an. Dann sagte sie:
»Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn sich das ganze Leben plötzlich als einzige Lüge entlarvt?«
Tammo schüttelte den Kopf. »Nein, aber du könntest mir davon erzählen. Was ist passiert? Mir ist gleich aufgefallen, dass du heute Abend anders bist und dich etwas beschäftigt.«
Er glaubte schon, sie würde ihm nicht antworten, obgleich ihr Blick noch immer auf ihn gerichtet war, doch dann begann sie leise zu sprechen.
»Die Frau, die ich mein Leben lang für meine Mutter hielt, ist nicht die, die mich geboren hat, und mein Vater, den ich für meinen Vertrauten und meinen besten Freund hielt, hat mich mein Leben lang belogen.«
Sie schwieg, und auch Tammo wartete, bis sie sich gesammelt hatte und die ganze Geschichte aus ihr herausbrach.
»Und was soll ich jetzt tun? Kann ich meinem Vater jemals wieder vertrauen?«, sagte sie schließlich, als sie bereits den Canale della Giudecca querten. Sie sah ihn aus solch traurigen Augen an, dass Tammo die Riemen sinken ließ und sich zu ihr setzte. Er legte seinen Arm behutsam um ihre Schulter.
»Er hat deine Mutter geliebt, das zählt doch, oder? Und er liebt dich. Mit dieser Lüge wollte er dich beschützen. Warum hätte er auch dich mit ihrem Verschwinden quälen sollen? Er hat nach ihr gesucht und nie wieder etwas von ihr gehört. Er weiß nicht, was ihr zugestoßen ist. Hätte er mit diesem Wissen seiner Tochter ihre kindliche Freude rauben sollen?«
Nicoletta schlang ihre Arme um ihn und drückte ihr Gesicht gegen seine Schulter.
»Vielleicht hast du recht. Und dennoch habe ich stets gespürt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ich litt unter der Ablehnung meiner Mutter und meiner Brüder – wie ich sie bis gestern nannte – und konnte mir ihren Hass nicht erklären.« Sie seufzte tief. »Und nun, da ich alles erfahren habe, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll. Wie soll ich ihnen begegnen? Nichts wird mehr so sein wie zuvor.«
»Du bist und bleibst eine Oscuro,
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