Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
überlegt angehen.«
»Und nicht so kopflos wie ich«, ergänzte Alisa und stöhnte. »Du hast ja recht, aber ich bin eben so. Manches Mal sind meine Emotionen stärker als meine Vernunft. Dann ist es mir egal, wen ich vor den Kopf stoße. Ich fürchte nur, Leo wird mir nicht so schnell verzeihen. Er war richtig wütend.«
Sie machte ein klägliches Gesicht.
»Ach was, er liebt dich. Das wird sich schon wieder einrenken«, behauptete Tammo.
»Ich hoffe, du hast recht«, meinte Alisa und wunderte sich im Stillen, was für seltsame Gespräche sie mit ihrem kleinen Bruder führte. Er hatte sich verändert, in den wenigen Nächten. Die Liebe hatte ihn verändert. Sie war eine starke Macht!
»Na, dann wollen wir uns mal auf den Rückweg machen«, schlug sie vor. »Aber zuvor muss ich dir noch etwas zeigen.« Sie lächelte geheimnisvoll und winkte ihm, ihr zu folgen.
»Was hast du vor?«, wollte Tammo wissen.
»Ich habe etwas entdeckt, das uns in unserem Kampf gegen die Larvalesti hilfreich sein könnte«, sagte sie. Alisa strebte auf ein Lagerhaus zu und öffnete das Tor, zu dessen Füßen eine zerbrochene rostige Kette lag, die vermutlich erst kürzlich zerstört worden war. Sie trat ins Dunkle und führte Tammo zu einigen großen Kisten an der Wand, die mit Eisenbändern umschlossen waren, doch auch ihre Schlösser waren aufgebrochen.
»Was ist da drin?«, fragte er mit einem mulmigen Gefühl.
»Mach sie auf und sieh selbst nach«, forderte ihn seine Schwester auf.
Tammo tat, wie ihm geheißen, und sah in die erste Kiste. Er stöhnte. Nein, so recht konnte er sich über den Fund nicht freuen.
D EGENKLIRREN UND P ULVERDAMPF
Leo trat an die Geheimtür und öffnete sie. Er winkte Anna Christina zu.
»Ich würde vorschlagen, deinen Gefangenen hier unterzubringen, bis wir wieder die Hände freihaben.«
»Ein guter Vorschlag«, stimmte sie ihm zu, griff nach dem Arm des Mannes und bugsierte ihn mit einem so kraftvollen Stoß auf die offene Tür zu, dass er erstaunt die Augen aufriss. Sie schubste ihn in den Raum und Leo schloss die Tür. Dann eilten sie zu Hindrik in den Ballsaal hinauf. Keinen Moment zu spät. Das leise Knarren einer Tür im oberen Stock verriet ihnen das Eindringen der Larvalesti. Nun wurde es interessant. Hindrik sah sich nach einer Waffe um und schlug einem großen Tisch die Beine ab. Zwei der gedrechselten Hölzer warf er Luciano zu.
»So was brauche ich doch nicht«, wehrte er ab, als die ersten beiden Vermummten auf der Treppe erschienen. Zum Erstaunen der Vampire blitzten tödliche Klingen im schwachen Schein der Lampe, die unten noch immer brannte. Leo stieß einen stummen Dank an die Weitsicht seiner Cousine aus.
Gern geschehen!
Nicht, dass sich ein Vampir und noch weniger ein Dracas vor ein paar Menschen fürchten musste, selbst wenn sie mit Degen bewaffnet waren.
Und doch …
In ihm stieg eine Ahnung auf, die ihn zur Vorsicht mahnte. Und Leo hatte gelernt, seinen Ahnungen zu vertrauen.
Es waren sechs Männer mit Masken und Dreispitz auf dem Kopf und den schon vertrauten Umhängen über den Schultern. Jeder von ihnen hielt eine lange, schmale Klinge in der Rechten. Die Linke dagegen ruhte an ihrer Hüfte.
Nahezu gleichzeitig schnellten die Hände in die Luft und wirbelten Wolken von feinem, dunklem Staub auf. Leo hatte sich wie die anderen die Nase mit Gaze verschlossen, doch er konnte dem feinen Pulver nicht entgehen, das sich im ganzen Ballsaal ausbreitete. Es war zu viel! Unerbittlich senkte es sich auf ihre Haut herab, legte sich auf ihre Kleider und setzte sich in ihrem Haar fest.
Obgleich er es nicht einatmete, spürte er die lähmende Wirkung. Er unterdrückte das mulmige Gefühl, das ihn erfasste. Es handelte sich immerhin nur um sechs Menschen. Egal, über welche magischen Tricks sie verfügten, es waren nur Menschen.
Mit Degen bewaffnet.
Na und? Er und Anna Christina hielten ebenfalls ihre Klingen in der Hand, und den andern beiden sollte es mit den hölzernen Tischbeinen gelingen, sich ein paar von schwacher Menschenhand geführter Klingen zu erwehren.
Alles kein Problem!
Warum wurde er dann zunehmend nervöser, je näher die Männer kamen? Nun erreichten die ersten die untersten Stufen und betraten den Saal.
Wir müssen uns konzentrieren und sie so schnell wie möglich ausschalten, vernahm er Anna Christina mit ungewohnt grimmiger Stimme in seinem Geist. Auch sie schien sich bewusst, dass dies kein gewöhnlicher Kampf war.
Leo nickte. »Konzentriert euch
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