Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
meisten der wertvollen liturgischen Gefäße waren noch da. Der Commissario konnte zufrieden sein.
Den Vampiren war das egal. Leo, Hindrik und Luciano huschten die schmale Treppe hinunter, die früher vermutlich nur von Bediensteten benutzt worden war, und traten im ersten Stock auf den Arkadengang hinaus. Vorsichtig lugten sie in den Hof hinunter. Eine Gruppe Bewaffneter stand dort beisammen und blockierte den Weg zum Tor.
Die drei eilten an der Balustrade entlang bis zur Nordwestecke, wo sie den Palast auch betreten hatten. Leo beugte sich über das Geländer und sah auf die Piazzetta hinunter. Auch dort warteten noch immer einige Posten unter den Arkaden der Bibliothek, frierend mit nassen Füßen, doch die Gewehre im Anschlag.
Leo ließ den Blick schweifen. »Was meint ihr? Sollen wir es riskieren, hier hinunterzuklettern? Ich kann versuchen, ihren Geist zu beschäftigen, dass sie nicht in unsere Richtung sehen. So sollten wir unbemerkt bleiben.«
Hindrik schüttelte den Kopf. »Ich will ganz sicher nicht deine Fähigkeiten infrage stellen, doch wir wissen nicht, wie sehr das Pulver der Oscuri uns beeinträchtigt. Wenn es schiefgeht, schießen ein halbes Dutzend Polizisten auf uns.«
»Und wenn schon«, entgegnete Leo. »Es ist fraglich, ob sie uns überhaupt treffen, und wenn, sie haben ganz sicher keine Silberkugeln.«
»Nein, das glaube ich auch nicht«, gab Hindrik zu. »Mein Vorschlag aber wäre, wir steigen hier auf den Fries und folgen ihm bis dort drüben über die Porta della Carta und klettern dann an der Basilika bis zu diesem umlaufenden Balkon hinauf. Von dort können wir zum Platz hinuntergelangen und ihn, ohne gesehen zu werden, außen umrunden.«
Leo hob die Schultern. »Umständlich, aber wenn euch das lieber ist.«
Er schwang sich über die Brüstung und hangelte sich auf dem schmalen Fries bis zu dem prachtvollen Portal, das als Letztes dem Dogenpalast hinzugefügt worden war. Leo griff in die steinernen Flügel des Löwen und hielt sich dann an der seltsamen Kopfbedeckung des Dogen fest. Die anderen folgten ihm. Ohne entdeckt zu werden, erreichten sie den Balkon der Basilika und huschten bis an sein Ende. Kurz darauf standen sie am Rand des Markusplatzes, den die Flut Stück für Stück wieder freigab. Sie eilten unter dem Torbogen des Uhrenturms hindurch und schlugen sich in der nächsten Gasse nach links. In einem weiten Bogen umkreisten sie den Platz, um sich dann von Westen her wieder dem Anleger vor dem königlichen Garten zu nähern.
Ehe sie die Gondeln erreichten, die träge im finsteren Wasser schaukelten, ergriff Leo Lucianos Arm.
»Wir haben dir etwas mitgebracht«, sagte er.
Luciano sah ihn aus großen Augen an.
»Es ist aber nicht nur eine freudige Überraschung«, warnte er.
Leo ging auf die Gondel zu, die sie auf San Clemente entwendet hatten.
Plötzlich blieb er stehen. Irgendetwas stimmte nicht. Er hatte nicht erwartet, Clarissa zu sehen. Sie sollte sich ja in die Felze zurückziehen, doch nun sah er, dass der Vorhang zurückgezogen war und der kleine Pavillon leer.
Verflucht! Was war passiert? Hatte sie sich entgegen seiner Anweisung hinausgewagt und war von den Polizisten entdeckt worden? War sie an Land gegangen oder hatte man sie von Bord geschleppt? Die Flut war bereits am Abklingen. Möglich war es also schon, aber wo war sie jetzt?
Leo eilte auf den Steg hinaus, der noch immer von den Wellen überspült wurde. Verdammt, verdammt, verdammt! Wie sollten sie da eine Spur finden?
»Was soll das?«, wunderte sich Luciano, als Leo an Bord sprang. Der Dracas zog seine Maske ab und befreite seine Nase. Dann bückte er sich und versuchte, Witterung aufzunehmen. Der Nosferas folgte seinem Beispiel und erstarrte dann mitten in der Bewegung.
»Clarissa war hier! Ihr habt sie also gefunden? Wo ist sie jetzt?«
»Wenn ich das wüsste«, knurrte Leo frustriert. »Sie sollte hier auf uns warten.«
»Ihr habt sie allein zurückgelassen?«, ereiferte sich Luciano.
»Wir hatten keine Wahl«, verteidigte sich Leo. Er sah sich ratlos um. Wo sollten sie suchen? Jetzt hatten sie Clarissa gerade erst gefunden, und nun war sie schon wieder weg.
Sein Blick glitt herab in das dunkle Wasser. Vergeblich versuchte er, es zu durchdringen. Er hatte Clarissas Mutlosigkeit gespürt. Ihre Angst, in Lucianos Blick Ablehnung oder gar Ekel zu lesen. War die Hoffnung, die er ihr gegeben hatte, verflogen, während sie hier allein auf ihre Rückkehr gewartet hatte? War sie so verzweifelt
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