Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
mitkamen.
Zu ihrer Überraschung folgte sie der Gasse, die nach Osten, weg vom Dogenpalast führte.
Alisa und Tammo sahen einander an. Alisa hob die Schultern. Sie hatte keine Ahnung, was Anna Christina vorhatte, doch was blieb ihnen im Augenblick anderes übrig, als ihr zu vertrauen?
Anna Christina eilte an einem kleinen Campo vorbei und bog dann wieder nach rechts in die nächste Gasse, die zur Riva degli Schiavoni führte, hinter der sie einen Wald von Masten vor dem noch immer dick bewölkten Nachthimmel aufragen sahen.
Was um alles in der Welt hatte sie vor? Nicoletta starb in Tammos Armen und sie lief unbekümmert durch die Stadt!
Da hielt sie an und öffnete eine Nebentür zu einem Palazzo. Sie folgten einem Gang und blieben an seinem Ende stehen, als sich eine große Halle vor ihnen öffnete.
Die Dracas huschte mit ihrer Last eine mit rotem Teppich belegte Treppe hinauf, ohne dass der Mann an der Rezeption auch nur den Kopf hob. Tammo und Alisa folgten ihr.
Anna Christina blieb vor einer Tür mit einer ovalen Metallplakette stehen und nickte Alisa zu. Die Tür war nicht verschlossen, und die Vampire betraten ein luxuriöses Zimmer mit breitem Himmelbett, auf das Tammo Nicoletta nun sanft niederlegte.
Anna Christina ließ ihren Vater weniger behutsam auf eine Chaiselongue mit hellgelbem Brokatbezug fallen. Die beiden Vampirinnen traten ans Bett.
»Lebt sie noch?«, erkundigte sich die Dracas.
Alisa umfasste wieder Nicolettas Handgelenk. »Ja, aber der Puls ist sehr schwach. Was ich tasten kann, sind einige Brüche hier am Arm und an den Beinen, doch das ist es nicht, was sie tötet.«
»Sie wird überleben!«, rief Tammo und sah Alisa verzweifelt an, doch seine Schwester schüttelte den Kopf. Sie legte sanft ihre Hand auf Nicolettas Bauch.
»Nein, sie ist nur ein Mensch. Sie hat innere Verletzungen. Ich kann das Blut durch ihren Bauch strömen fühlen. Ihre Rippen sind gebrochen und haben vermutlich die Lunge durchstoßen. Hör ihren mühsamen Atem. Du musst es akzeptieren. Nicoletta wird diese Nacht nicht überleben.«
Sie hatte sanft mit ihm gesprochen, doch er schüttelte zornig den Kopf. »Sprich nicht so!«, fuhr er sie an.
Alisa wusste, dass sein Zorn nur ein anderer Ausdruck seiner Verzweiflung war. Er hatte sich zum ersten Mal in seinem Dasein verliebt und musste nun, ehe sie Zeit gehabt hatten, ihre Liebe zu leben, schon wieder loslassen und auf sie verzichten. Alisa ahnte, wie hart das für ihn war.
Plötzlich stöhnte Nicoletta und öffnete die Augen. Zuerst schwankte ihr Blick verwirrt hin und her, dann sah sie Tammo an und ihr Blick klärte sich. Ihre Hand klammerte sich an die seine.
»Der Mantel«, stöhnte sie. »Er hat mich nicht getragen.«
Tammo schüttelte den Kopf. »Nein. Es war mein Mantel. Du hast ihn gegen deinen ausgetauscht. Erinnerst du dich?«
Sie deutete ein Nicken an.
»Mein Vater«, stöhnte sie. »Er konnte auch nicht fliegen. Ich habe ihn gewarnt, aber er wollte nicht hören.«
»Ja, ich war da. Sein Umhang ist gerissen, doch er ist ins Wasser gestürzt. Er wird sich wieder erholen.«
Nicoletta sah ihn unverwandt an. Eine Träne schimmerte in ihrem Auge. »Aber ich nicht«, sagte sie. »Ich kann es spüren. Mir wird so kalt. Es ist der Tod, der mich holt, nicht wahr?«
Wie gern hätte Tammo ihr widersprochen, doch er konnte nur stumm nicken.
Dann ging ein Ruck durch seinen Körper, und er sah erst Alisa und dann wieder Nicoletta an. Er umklammerte ihre Hände.
»Ja, es ist richtig, dein Leben als Mensch endet heute Nacht, aber wenn du es willst, dann kann ein neues beginnen.«
»Tammo, nein!«, rief Alisa.
»Warum nicht? Wir haben auch Clarissa gewandelt!«
»Ivy hat Clarissa gewandelt«, korrigierte Alisa. »Ohne ihre Kraft, hätte es Luciano nicht geschafft.«
Er tat das mit einem Achselzucken ab und wandte sich wieder Nicoletta zu, in deren Miene Verwirrung stand.
»Wie du selbst es bereits spürst, geht dein menschliches Leben zu Ende, doch wir können dir ein neues schenken, ein anderes Leben, in dem du jung bleiben wirst bis in alle Ewigkeit – und mit mir zusammen sein könntest«, fügte er ein wenig schüchtern hinzu. »Wenn du es willst!«
»Ich verstehe nicht ganz«, hauchte sie. »Du meinst, du willst mich zu einem Vampir machen?«
»Ja, dein Körper wird sich verwandeln und kräftig werden.«
»Wenn du mir mein Blut nimmst?«
»Ja, und dir von meinem etwas zurückgebe. Dann wirst du dich wandeln und ein Wesen der Nacht werden,
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