Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
ihm noch einen finsteren Blick, dann rannte er zur Treppe und stürzte diese so schnell hinunter, dass Hindrik kaum zwei Wimpernschläge später die Haustür krachen hörte.
Zögernd trat er vor und sah in die Kammer. Ein schwerer Schreibtisch nahm den Raum fast völlig in Besitz. Es war ein handwerklich schönes Stück, das noch aus den alten Kaufmannshäusern stammte, die sie früher bewohnt hatten. Der Stuhl dahinter war jedoch leer. Hindrik trat noch einen Schritt vor, bis er die Gestalt sehen konnte, die ihm den Rücken zukehrte und aus dem Fenster auf den nächtlichen Fleet hinaussah.
»Komm herein und schließ die Tür«, sagte Dame Elina, ohne sich umzudrehen. Hindrik tat, wie ihm geheißen, und blieb dann neben der geschlossenen Tür stehen. Abwartend schwieg er und betrachtete die Vampirin, die ihren Clan nun schon so lange klug führte. Wie so oft verhüllte ein schlichtes, dunkles Kleid ihren Körper mehr, als dass es die große, schlanke Gestalt zur Geltung gebracht hätte. Und auch ihr Haar war nur nachlässig zu einem Knoten aufgesteckt. Von modischen Raffinessen hielt Dame Elina nicht viel. Endlich drehte sie sich um und bedachte Hindrik mit einem schiefen Lächeln. Obgleich es nicht zu den besonderen Fähigkeiten der Vamalia gehörte, die Gedanken anderer Clanmitglieder zu lesen, schien sie genau zu wissen, was ihm durch den Kopf ging.
»Ich denke, es gibt Wichtigeres als meine Erscheinung, Hindrik. Ich wage sogar zu behaupten, dass es uns Vampiren besser ansteht, nicht aufzufallen.«
Er nickte nur stumm und wartete, dass sie das ansprach, was ihr die sorgenvollen Falten in die Stirn trieb.
»Du hast seine Worte vernommen?«, sagte sie schließlich.
Hindrik nickte. »Er wurde so laut, dass ich gar nicht umhin konnte, sie zu hören.«
Dame Elina seufzte. »Ich bin in Sorge. Er wird sich meinen Anweisungen widersetzen, nicht wahr?«
Hindrik neigte den Kopf. »Das ist zu vermuten.«
»Selbst wenn ich ihm schärfste Konsequenzen in Aussicht stelle«, fügte sie mit einem weiteren Seufzer hinzu. Es war keine Frage, daher schwieg der Servient. Dame Elina wandte sich wieder dem Fenster zu.
»Ich führe diesen Clan nun schon seit vielen Jahren, und bisher ist es mir stets gelungen, die Feindseligen zu beruhigen und die Widersetzlichen zum Einlenken zu bringen. Doch was soll ich nun tun?«
»Ihn gewähren lassen«, sagte Hindrik, obgleich er nicht sicher war, ob sie seine Meinung wirklich hören wollte.
»Er ist vierzehn!«
»Fast fünfzehn und stärker als alle Vampire vor ihm in diesem Alter. Vergesst nicht, er hat die vergangenen Jahre die Akademie absolviert, und er hat sich sehr gut geschlagen.«
»Ich will ihn nicht verlieren«, sagte sie nach einer Weile leise.
»Dann müsst Ihr ihn seinen eigenen Weg wählen lassen.«
»Ich weiß«, sagte sie nach einer Weile. »Und doch frage ich mich, ob ich mich um den jüngsten unseres Clans sorgen muss.« Sie drehte sich wieder um und richtete ihre grauen Augen auf Hindrik.
»Nein, das müsst Ihr nicht«, versicherte ihr der Servient.
»Danke, Hindrik. Ich verlasse mich auf dich.«
Er verbeugte sich und legte die Hand an die Brust, in der schon lange kein menschliches Herz mehr schlug.
»Dann empfehle ich mich jetzt. Gehabt Euch wohl, Dame Elina, bis wir uns wiedersehen.«
Sie neigte nur den Kopf und folgte dem Vampir im kräftigen Körper eines jungen Mannes mit ihrem Blick, bis er um die Ecke bog und ihm entschwand.
***
Dort vorne war er. Er war noch immer ziemlich schnell unterwegs. Sein Zorn hatte sich offensichtlich noch nicht abgekühlt. Zuerst hatte Hindrik den Eindruck, er würde nur ziellos durch Hamburgs Straßen laufen, doch dann schien er einen Entschluss gefasst zu haben. Tammo überquerte den Rathausplatz und lief weiter in Richtung Petrikirche. Als er in die Spitalerstraße einbog, wusste Hindrik, dass ihn seine Ahnung nicht getäuscht hatte. Er ließ ihn nicht aus den Augen, obgleich er nun sicher war, Tammos Ziel zu kennen. Und richtig, kaum ein paar Minuten später betrat er das Bahnhofsgebäude und hielt einen Bahnbeamten an, der mit misstrauischem Blick auf ihn herabsah. Offensichtlich war der Beamte der Meinung, ein Junge seines Alters gehöre um diese Zeit nach Hause in sein Bett und nicht in eine Bahnhofshalle. Doch Tammo war nicht irgendein Junge, der sich von einem Bahnhofsvorsteher ausfragen oder gar zur nächsten Polizeidienststelle bringen ließ. Er war ein Vampir, der ein Jahr bei den Dracas verbracht und
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