Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Totenstarre bei Tag wieder regenerieren konnte? Sie wusste es nicht. So wie das Mädchen gesagt hatte, waren die Schäden erst vor wenigen Stunden entstanden. Vielleicht würde ein weiterer Tag genügen, um ihre Haut wiederherzustellen und ihr Haar wachsen zu lassen. Hatte Luciano ihr den Unterschied nicht so erklärt? Dass unreine Vampire sich stets in den Zustand zurückverwandelten, der zum Zeitpunkt ihres Todes bestanden hatte? So würde sie immer jung und schön bleiben, während er und die anderen Erben älter werden und sich äußerlich verändern würden. Verletzungen heilten bei unreinen Vampiren schneller. Waren sie den Reinen dadurch überlegen? Vielleicht fürchteten die Clans, die Unreinen könnten irgendwann die Herrschaft übernehmen, und hielten sie deshalb wie Sklaven. Zumindest die Nosferas und die Dracas. Bei den anderen Clans war es eher ein gleichberechtigtes Miteinander.
Das war jetzt jedoch unwichtig. Ihr Problem stand ihr deutlich sichtbar vor Augen, wenn sie ihren Blick zu ihren Armen hinabsinken ließ. Clarissa wusste nicht, ob Schäden, die die Sonne bei einem Vampir angerichtet hatte, wie andere Wunden heilten, aber eines war ihr klar: Wenn sie ihre Stärke zurückgewinnen wollte, dann brauchte sie Blut.
Sie mühte sich um ein Lächeln. Selbst diese kleine Bewegung schmerzte, und es fühlte sich an, als würde der Rest von Haut auf ihren Lippen zerreißen. Sie winkte das Mädchen zu sich, und wirklich, sie erhob sich und kam näher.
»Kann ich etwas für Sie tun, um Ihr Leiden zu lindern?«
»Ich habe solchen Durst«, hauchte Clarissa. Das Mädchen beugte sich vor, um ihre Worte zu verstehen.
»Möchten Sie ein Glas Wasser? Ich wusste nicht, dass Vampire Wasser trinken.«
Clarissa schüttelte langsam den Kopf. Ihre Finger schlossen sich um den Arm des Mädchens, ihr Blick senkte sich in den seinen.
»Tun wir auch nicht.«
Die Erkenntnis kam zu spät. Clarissa sah das Aufblitzen in den dunklen Augen und spürte den kurzen Widerstand, doch da senkten sich ihre Zähne bereits in den Hals des Mädchens. Blut sprudelte ihr in die Kehle. Sie fühlte, wie ihre Kraft mit jedem Schluck zunahm. Sie trank und trank, während das Mädchen in ihren Armen immer schwächer wurde. Nun konnte alles gut werden, dachte sie noch, als sie sich von ihr löste. Sie sackten beide in sich zusammen und versanken in tiefe Bewusstlosigkeit.
***
Tammo eilte zum Bahnsteig. Er konnte sein Glück nicht fassen. In kaum einer Stunde sollte der Zug aus Wien ankommen, der noch vor Mitternacht wieder in Richtung Süden fahren würde. Er wartete, bis keiner hinsah, dann sprang er mit einem eleganten Satz über die Sperre, hinter die man als normaler Reisender nur mit einer gültigen Fahrkarte oder mit einer Bahnsteigkarte kam. Aber schließlich war er kein Mensch, und solche Kleinigkeiten konnten ihn nicht aufhalten.
Tammo machte sich auf die Suche nach einer Kiste, in der er bequem bis zu seinem Umsteigebahnhof in Österreich reisen konnte. In einem angrenzenden Gebäude, wo allerlei Gepäck aufbewahrt wurde, fand er etwas Passendes. Er besorgte sich noch ein wenig Werkzeug und ein paar Nägel, dann trug er die Kiste bis zu einer Ecke nahe dem Bahnsteig, von wo aus er die hinteren Gepäckwagen leicht erreichen konnte.
Unruhig schritt er auf und ab und starrte immer wieder auf die große Uhr, deren Zeiger sich heute nur sehr zögerlich zu bewegen schienen. Sein Blick glitt den Bahnsteig entlang. War da nicht ein Schatten? Das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden, kroch ihm prickelnd über den Rücken, doch jedes Mal, wenn er sich unvermittelt umdrehte, konnte er niemanden entdecken. Er konnte nur hoffen, dass ihm seine Einbildung einen Streich spielte und nicht im letzten Moment jemand auftauchen würde, um seinen Plan zu vereiteln.
Aber er würde sich nicht aufhalten lassen, das schwor er sich!
Endlich trat der Vorsteher auf den Bahnsteig, zupfte seine Uniform zurecht und verkündete mit lauter Stimme die Ankunft des Nachtzuges aus Wien. Da hörte Tammo auch schon ein Pfeifen, mit der sich die Dampflock ankündigte. Eine graue Rauchwolke stieg in den Nachthimmel. Tammo blieb in Deckung, bis der Zug eingefahren war und mit durchdringendem Quietschen zum Halten kam. Türen wurden aufgerissen, Gepäckträger eilten mit ihren Karren herbei und halfen fein gekleideten Herren und eleganten Damen aus den Waggons der ersten Klasse. Dann luden sie Koffer und Hutschachteln auf und begleiteten die Herrschaften ins
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