Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Sie mich hören? Dann öffnen Sie bitte die Augen.«
Die Stimme klang freundlich und vielleicht auch ein wenig besorgt. Es war wieder dieses Mädchen, das mit dem Schemen in der Nacht in den Palazzo gekommen war. Mit dem finsteren Löwen von Venedig. Leone Oscuro.
Clarissa mühte sich, ihrer Aufforderung Folge zu leisten. Mit äußerster Anstrengung schaffte sie es, die Lider zu heben. Ihr Blick fiel auf etwas, das seltsam aussah. Ein verkohlter Ast oder so etwas. Es roch noch immer nach Verbranntem. Asche stieg ihr in die Nase. Eine Welle von Schmerz verkrampfte ihren Körper. Der Ast zitterte. Verkohlte Finger krümmten sich.
Ihre Finger! Die genauso verbrannt waren wie ihr ganzer Arm.
Mit einem Schrei des Entsetzens fuhr Clarissa hoch. Sofort folgte ein Schmerzensschrei. Ihr Körper protestierte gegen die Bewegung. Clarissa verstummte. Ihre Augen weiteten sich, als ihr Blick von einem Arm über den anderen und dann hinab zu ihren Beinen wanderte, die unter einem kaum wadenlangen Hemd hervorlugten, das nicht ihr gehörte. Jedes Fleckchen ihrer Haut, das sie sehen konnte, war verbrannt! Mit einem Klagelaut hob sie die Hand und tastete mit den verkohlten Fingerspitzen nach ihrem Gesicht.
»Nicht«, rief das Mädchen. »Berühren Sie es nicht. Sie machen es nur schlimmer.«
Clarissa konnte nicht viel fühlen, doch was sie ertastete, bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Ihr Gesicht und vermutlich ihr ganzer Körper sahen nicht anders aus. Von ihren langen, prächtigen Locken war nichts geblieben. Eine Ascheschicht bedeckte ihren kahlen Kopf. Sie hätte vor Kummer geweint, wenn ihr dies möglich gewesen wäre.
»Ich brauche nicht zu fragen, wie es Ihnen geht«, sagte das Mädchen mit einem Seufzer. »Sind die Schmerzen sehr schlimm?«
Endlich hob Clarissa den Blick. Das Mädchen trug noch immer eine Maske, doch sie hatte den weiten Umhang mit der Kapuze abgelegt. Sie war recht klein und sehr zierlich. Ihr Haar wallte in schwarzen Locken über ihren Rücken herab. Ihr Gesicht schien schmal zu sein, soweit Clarissa das beurteilen konnte. Sie sah nur die roten Lippen und ein spitz zulaufendes Kinn.
»Was ist passiert?«, fragte Clarissa mit rauer Stimme, die nicht die ihre zu sein schien.
»Ein bedauerlicher Unfall«, sagte das Mädchen. »Es tut uns unendlich leid.«
»Sie haben mich entführt!«, widersprach Clarissa. »Sie haben mich gegen meinen Willen mitgenommen und mich dann fast vernichtet.«
»Wir wollten Sie nicht töten«, sagte das Mädchen. In ihrer Stimme klang ehrliches Bedauern. »Es war die Unwissenheit über Ihre Natur. Padre hat uns nicht gesagt, dass Sie ein Vampir sind und das Sonnenlicht unbedingt meiden müssen. Er und Leone waren nicht da, als wir Sie aus der Gondel holten, um Sie in unser Versteck zu tragen. Padre sagte, Sie würden bis zum Abend schlafen und wir könnten Sie im Schutz der Felze liegen lassen. Er hat die Vorhänge zugezogen und ist gegangen.« Das Mädchen seufzte. »Aber dann dachten wir, es wäre besser, Sie hierher zu bringen, ehe die Nacht hereinbricht und wir fortmüssen. Das war ein Fehler.«
Clarissa sah, wie sie unter der Erinnerung erschauderte. »Es war schrecklich«, hauchte sie. »Es begann Rauch aus dem Umhang aufzusteigen, unter dem wir Sie verborgen hatten, und als ich ihn zurückschlug, sah ich, wie Ihre Haut verbrannte. Da begriff ich. Wir haben uns beeilt, Sie ins Haus zu bringen, doch bis wir die Tür erreichten, war das Unglück bereits geschehen.«
Clarissa bemerkte, dass die Augen des Mädchens feucht schimmerten. »Ich dachte, Sie seien tot, doch Padre sagte, wir sollten abwarten. Vampire würden über erstaunliche Fähigkeiten verfügen.«
»Ja, die haben wir«, gab Clarissa zurück, und es klang wie das Knurren eines hungrigen Wolfs. »Hat Ihr Vater Sie nicht gewarnt, dass wir gefährlich werden können?«
Das Mädchen lächelte. »Doch, das hat er. Er sagte, ich solle das Zimmer nicht betreten, solange er weg ist.«
»Und wieder widersetzen Sie sich seinen Anweisungen!«
»Ich wollte nur sehen, ob Sie aufwachen, und fragen, wie es Ihnen geht.« Clarissa ahnte in ihrem Blick, wie furchtbar sie aussehen musste. Vielleicht war es gut, dass sie sich als Vampir nicht mehr in einem Spiegel betrachten konnte. Den Anblick hätte sie nicht ertragen.
Sie unterdrückte das in ihr aufsteigende Stöhnen und betrachtete das Mädchen mit wachsender Blutgier. Clarissas Körper war zu großen Teilen zerstört. Mehr als sich während der
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