Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
zumindest so viel von deren Kräften gelernt hatte, dass der Mann in seiner roten Uniform ihm ausgeliefert war. Hindrik konnte ahnen, wie Tammo lächelte, während sein Blick sich tief in den Geist des Mannes senkte. Der Blick des Vorstehers wurde glasig, während sein Mund sich wie mechanisch bewegte.
»Besten Dank für die Auskunft«, hörte Hindrik Tammo freundlich sagen. Ein wenig Triumph schwang in seiner Stimme. Plötzlich schien er zu zögern. Rasch trat Hindrik hinter eine Säule. Er spürte, wie sich Tammo umwandte und den Blick prüfend durch die Halle wandern ließ, in der nur noch die wenigen Leute, die auf einen der Nachtzüge warteten, umherwanderten. Als Hindrik wieder wagte, hinter der Säule hervorzulugen, war der junge Vamalia verschwunden. Nur der Bahnhofsvorsteher stand noch immer reglos an der gleichen Stelle, den Blick träumerisch in die Ferne gerichtet.
Mit raschen Schritten durchquerte Hindrik die Halle, die Fährte des Vamalia in der Nase.
***
Clarissa fühlte sich schlecht wie noch nie in ihrem Leben. Etwas in ihrem Geist stutzte. Sie lebte ja gar nicht mehr. Sie war bereits vor langer Zeit gestorben.
Woher kam dann dieser Schmerz? Er erinnerte sie an etwas. So sehr hatte sie nur einmal gelitten. Nicht in der Nacht, in der sie gestorben war. Der Tod kam auf sanften Schwingen. Er war ein Verführer. Nein, der Schmerz hatte mit ihrem zweiten Leben begonnen, von dem sie nicht recht wusste, ob sie es als Leben bezeichnen durfte. Es schlug kein Herz mehr in ihrer Brust. Ihr eigenes Blut war kalt, und sie benötigte fremden Lebenssaft, um ihren Körper zu erhalten.
Wieder schoss eine Welle von Schmerz durch ihren Leib. Sie spürte, wie sie sich verkrampfte. Ihre Hände und Füße zitterten.
Es war wie bei ihrer Wandlung vom Menschen, oder besser gesagt, von einem toten Menschenkörper zum Vampir. Sie konnte nur hoffen, dass auch dieses Mal der Schmerz bald vergehen würde.
Eine Stimme, die sie nicht kannte, drang an ihr Ohr. Oder hatte sie sie doch schon einmal gehört? Sie klang wie die eines jungen Mädchens. Sie sprach kein richtiges Italienisch. Es klang härter, und Clarissa war sich nicht sicher, ob sie die Worte richtig verstand.
Dann sagte das Mädchen auf Italienisch: »Ich glaube, sie erwacht.«
Clarissas Hände und Füße zitterten nicht mehr, und sie hörte, wie ein Stöhnen ihren Lippen entwich. Dann roch sie das warme Blut, das in den Adern eines lebenden Körpers pulsierte. Sie war also noch immer ein Vampir und ihr Blutdurst benebelte ihren Geist. Oder kam das von etwas anderem? Wo war sie überhaupt und was war geschehen?
Sie sah sich in einer langen, schmalen Gondel. Schwarzes Wasser strich murmelnd am Rumpf des Bootes entlang. Häuserfronten huschten wie im Nebel vorbei. Sie wuchsen direkt aus dem Wasser. Ihre Fassaden waren alt. Der von der Feuchtigkeit dunkel verfärbte Putz bröckelte.
Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Sie war mit Luciano vor den Nosferas nach Venedig geflohen. Das Bild eines weitläufigen Friedhofs tauchte vor ihr auf. Sie wandelte allein zwischen den Gräbern. Zwei flüchtige Schemen, deren Schritte kaum hörbar waren, und dieser seltsame Geruch. Wieder stiegen Zweifel in ihr auf. Waren das normale Menschen gewesen? Sie war ihnen gefolgt, bis sie in der Kirche verschwanden. Warum hatte sie Luciano nicht gleich davon erzählt und es erst erwähnt, nachdem der Fremde in den Palazzo eingedrungen war?
Dann hatte Luciano sie zu diesem verfluchten Palazzo gebracht. Sie hatten den Fluch, der auf dem Haus liegen sollte, nicht ernst genommen, doch vielleicht war das ein Fehler gewesen. Vielleicht würde sie jetzt nicht von Schmerzen gequält werden, wenn sie die Warnung ernst genommen hätten.
Wenn Luciano die Warnung ernst genommen hätte!
Er hatte ihr nicht geglaubt. Er hatte den Mann mit der Maske im schwarzen Domino als weibliches Hirngespinst abgetan. Dabei hatte der Schemen ihnen eine Chance gegeben. Jetzt aber war es zu spät. Jetzt würde sie Luciano niemals wiedersehen.
Doch! Er würde sie suchen und sie befreien, versuchte sie sich einzureden. Aber da war noch etwas, das sie mit schwindenden Sinnen vernommen hatte. Sie konnte sich an die Worte nicht mehr erinnern, dafür aber an die Hoffnungslosigkeit, die sie dabei überkommen hatte. Es war eine Ahnung von gleißend hellen Sonnenstrahlen und von Schmerz, der ihr die Besinnung raubte. Der Gestank von verbranntem Fleisch stieg ihr in die Nase und ließ sie würgen.
»Signora, können
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