Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
draußen, die die Gepäckträger auf ihre Karren luden. Ein bunter Strom wälzte sich durch die weit geöffneten Türen ins Bahnhofsgebäude. Auf dem Bahnsteig wurde es still.
»Können wir endlich?«, drängte Anna Christina mit ungnädiger Stimme.
Tammo hatte zwar das Gleiche gedacht, dennoch fuhr er sie an: »Hör auf rumzunörgeln. Hindrik weiß schon, was er tut. Er ist der Älteste von uns.«
Hindrik schmunzelte. »Da musste schon viel passieren, dass du mich verteidigst. Ich dachte immer, ich sei dir nur lästig.«
»Blödsinn!«, gab Tammo zurück. »Du weißt genau, dass ich viel auf deine Meinung gebe – nun ja, wenn du mir nicht gerade mit irgendeinem unsinnigen Verbot den Spaß verderben willst.«
Er musste selbst grinsen, und sogar Anna Christina ließ so etwas wie ein Lächeln sehen. »Was gemeinsame Feinde so alles bewirken.«
»Du bist nicht unsere Feindin«, widersprach Hindrik. »Du bist nur, wie soll ich es sagen … «
»… nur ein wenig lästig«, ergänzte Tammo. »Es hat dich keiner eingeladen, mit uns zu kommen, also fang ja nicht wieder an, dich über alles zu beschweren.«
Zu seiner Verwunderung erwiderte Anna Christina nichts, allerdings konnte das auch daran liegen, dass Hindrik gerade die schwere Schiebetür des Gepäckwagens öffnete und hinausspähte.
»Wir können gehen. Soll ich dein Gepäck nehmen?«
Anna Christina sah ihn überrascht an. Natürlich war das bei den Dracas die Aufgabe der Unreinen, doch sie wusste selbstverständlich, dass es bei den Vamalia anders zuging und sich Hindrik ganz sicher nicht als ihr Dienstbote verstand.
Sie nickte und fügte noch ein »Danke« hinzu.
Die drei folgten dem dunklen Bahnsteig und durchquerten dann die Halle, in der nur noch wenige Reisende unterwegs waren. Hindrik ging bis zum Anleger der Gondeln und Vaporettos und stellte dort Anna Christinas Gepäck ab.
»Und nun? Hat einer von euch sich schon Gedanken darüber gemacht, wie wir die anderen aufspüren können? Oder hast du einen Hinweis, wo sie sich aufhalten, Tammo?«
Der Vamalia schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie zu Luciano und Clarissa wollten und dass sie den Verdacht hatten, hier sei irgendetwas faul.« Seine Augen begannen zu leuchten. »Jedenfalls verspricht es hier spannender zu werden als in Hamburg.«
Anna Christina verdrehte die Augen. »Was für eine perfekte Vorbereitung für dieses Vorhaben.«
»Ach ja, und wie hast du dich vorbereitet?«, konterte Tammo.
»Ich habe meine Pläne lediglich spontan den Gegebenheiten angepasst«, sagte sie mit emporgerecktem Kinn.
Hindrik hob die Schultern. »Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Stadt nach ihren Spuren zu durchkämmen. Es sei denn, Anna Christina kann uns weiterhelfen.«
Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen aufmerksam an. Tammo dagegen machte eine wegwerfende Handbewegung. Ausgerechnet die! Doch die Miene der Dracas wurde von einem Lächeln erhellt, das ihre Schönheit zum Leuchten brachte.
»Wie kommst du denn auf diese Idee?«
Hindrik lächelte zurück. »Nun, ich habe gehört, die Dracas seien Meister darin, Gedanken zu lesen, Stimmungen aufzufangen und zu beeinflussen. Da frage ich mich, wie weit ihre geistigen Fähigkeiten gehen.«
Anna Christina lächelte noch immer. »Wie weit sollten sie denn gehen?«
»Nun, vielleicht ist es den Dracas möglich, auch über weite Entfernungen hinweg in Kontakt miteinander zu treten.«
»Das ist den Mächtigen unter uns durchaus möglich«, gab sie zu.
Hindrik ließ nicht locker. »Und? Könntest du Leo erreichen?«
Tammo starrte sie ungläubig an. »Nie im Leben«, behauptete er.
Anna Christina ließ die beiden ein wenig zappeln. Dann nickte sie. »Was soll ich tun? Mich bei Leo melden und eine Gondel bestellen?«
Hindrik grinste breit. »So in etwa habe ich mir das gedacht.«
»Gut, dann will ich es mal versuchen.«
***
Die Erben erwachten. Leo und Luciano eilten sofort zum Fenster, um zu sehen, ob sich im Palazzo drüben etwas tat, doch noch schien er verlassen. Leo wandte sich um und warf Alisa einen besorgten Blick zu, als sie mit bedacht langsamem Schritt zu ihnen trat. Aber immerhin konnte sie heute Abend ihren Sarg bereits wieder auf ihren eigenen Beinen verlassen. Als er sie zur Ruhe gebettet hatte, war sie kaum bei Bewusstsein gewesen.
»Alles in Ordnung?«
Sie mühte sich um ein Lächeln. »Aber ja, warum denn nicht? Ich habe einen ganzen Tag lang geruht. Das muss ja wohl reichen.«
»Du hast
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