Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
einer Weile und seufzte schwer. »Ich schäme mich für meine Unwissenheit und hoffe, dass ich das irgendwie wiedergutmachen kann.«
Calvino schüttelte den Kopf. »So darfst du nicht denken. Sie ist keine von uns. Sie ist ein Vampir, der vermutlich Nacht für Nacht Menschen tötet. Du brauchst dein Mitleid nicht für sie verschwenden. Gut, es war nicht so geplant. Wir wollten sie nur für immer aus Venedig verjagen. Nun aber ist es geschehen. Vielleicht hätte ich auf den Rat meiner Brüder hören und sie an Ort und Stelle vernichten sollen, statt sie mit hierher zu nehmen.«
»Wir töten nicht!«, rief das Mädchen empört. »Waren das nicht eben deine Worte? Keine Waffen aus Stahl?«
Calvino zog eine Grimasse. »Es gibt andere Methoden, einen Vampir zu vernichten, und ich frage mich, ob es nicht an der Zeit ist, das zu Ende zu bringen, was du unabsichtlich begonnen hast.«
»Ohne böse Absicht!«, betonte Nicoletta. Sie streckte die Hand nach ihrem Dolch aus. Ihr Vater gab ihn ihr zurück. Doch nun stellte sie sich mit dem Rücken zum Bett gewandt auf, richtete die Klinge gegen ihn und sah herausfordernd zu ihm auf. Er seufzte.
»Nein, tu das nicht. Ein Vampir ist es nicht wert, dass du die Hand gegen deine eigene Sippe erhebst.«
Nicolettas Miene war entschlossen. »Ich habe nicht vor, meine Hand gegen irgendjemand zu erheben, aber ich werde auch nicht zulassen, dass sich jemand an der Vampirin vergreift, während sie hier wehrlos in ihrem Todesschlaf liegt. Und sage nun nicht, dass ich allein mit dieser Ansicht dastehe. Ich weiß, dass es Leones Idee war, sie zu entführen statt zu töten. Auch er will keine Gewalt anwenden, um unsere Forderungen durchzusetzen, sei es gegen Menschen oder Vampire.«
»Ja, das ist richtig. Doch viele deiner Cousins und selbst deine Brüder denken anders.«
Nicoletta schnaubte durch die Nase. »Ich weiß, und deshalb werde ich hierbleiben und dafür sorgen, dass ihr keiner etwas antut, solange sie sich nicht wehren kann.«
»Es soll ihr nichts geschehen«, versprach Calvino widerstrebend. »Ich werde Anweisung erteilen, dass keiner den Raum betreten darf. Ich selbst werde ihn verschließen und den Schlüssel mitnehmen. Aber nun komm mit hinaus und geh zurück in dein Bett. Ich möchte, dass du bald wieder bei Kräften bist. Ich brauche doch den schnellsten Schemen an meiner Seite.«
Nicolettas Augen leuchteten. »Der große Coup? Wann ist es so weit?«
»Geduld, meine Liebe. Schon bald! Sehr bald.«
Er legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie hinaus. Dann schloss er die Tür ab und ließ den Schlüssel in seine Tasche gleiten.
Entweder bemerkte er es nicht oder er wollte es nicht merken, dass Nicoletta ihn bei ihrer Umarmung zum Abschied entwendete und mit hinauf in ihre Kammer nahm.
***
Alisa fiel die Aufgabe zu, den unerwarteten Besuch am Anleger einige Häuser oberhalb des Palazzo am Canal Grande in Empfang zu nehmen und zu ihrem Versteck zu bringen, während Leo und Luciano auf ihren Beobachtungsposten blieben, um nicht etwa den Maskierten zu verpassen, sollte er heute Nacht dem Palazzo neuerlich einen Besuch abstatten.
Sie schluckte ihre Widerworte herunter und humpelte die Gasse entlang bis zum Kai, wo die Gondel anlegen würde, die Leo seiner Cousine geschickt hatte. Alisa machte sich noch Gedanken darüber, was Leo mit »einer weiteren Überraschung« gemeint hatte, die sie erwarten würde, als ein Boot mit zwei Gondolieri in Sicht kam. Alisa streckte ihre geistigen Fühler aus und stieß auf eine Wand aus eisiger Abwehr. Das konnte nur Anna Christina sein!
Ich grüße dich, Alisa de Vamalia, vernahm sie die Stimme der Dracas in ihrem Kopf. Ich dachte schon, es bequemt sich keiner von euch, uns gebührend willkommen zu heißen.
Es wunderte Alisa zuerst nicht, neben Anna Christina noch zwei weitere dunkle Silhouetten in der Gondel ausmachen zu können, die nicht die warme Aura der Menschen mit sich trugen. Anna Christina war nie ohne ihren Schatten unterwegs, und vielleicht nahm sie sich auf eine solche Reise mehr als einen Dienstboten mit. Allerdings hätte ihr auffallen müssen, dass Anna Christina von uns gesprochen hatte, worunter bei einem Dracas sicher keiner der Servienten fiel. Sie waren für die Wiener Vampire nur stumme, dienstbare Geister und keine Personen, die man in einem Atemzug mit einem reinen Vampir nannte.
Als die Gondel näher kam, erkannte Alisa, dass es sich bei Anna Christinas Begleitung um zwei männliche Vampire handeln
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