Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
ihm geräuschlos.
Drei Stockwerke ließen sie hinter sich, bis die Treppe auf einem kleinen Absatz endete. Der Mann öffnete die Holztür, betrat den Dachboden des Hauses und schloss die Tür wieder hinter sich. Alisa hielt inne und tastete nach seinen Gedanken. Sie wollte natürlich wissen, was er dort oben zu suchen hatte, konnte aber nicht riskieren, ertappt zu werden.
Sie hörte ein Rascheln. Dann huschte ein Lichtschein am Türspalt entlang. Widerstrebend nahm sie die Hand von der Klinke. Er könnte sie entdecken, wenn sie die Tür öffnete. Da gab es eine bessere Möglichkeit. Alisa sammelte ihre Kräfte und konzentrierte sich auf das Bild eines kleinen, flinken Nagers. Der Nebel wallte auf, und schon schlüpfte die Maus unter dem Türspalt hindurch. Als sie sich umsehen wollte, hätte sie fast unter dem Stiefel, der unvermittelt auf sie herabsauste, ihr Leben ausgehaucht. Sie zischte hinter eine Kiste und blieb dort zitternd sitzen.
Was ist los?
Nichts, wehrte sie Leos besorgte Frage ab. Ihm entging einfach nichts.
Alles in Ordnung. Ich denke, er erwartet jemanden.
Alisa lugte hinter der Kiste hervor. Der Mann war verschwunden. Das war doch nicht möglich! Die Tür war noch immer geschlossen. Die Maus kam hinter der Kiste hervor und sah sich ratlos um. Keiner zu sehen. Alisa wandelte sich zurück. Verflucht, wie hatte er einfach so verschwinden können?
Ein kalter Luftzug erregte ihre Aufmerksamkeit und ließ sie dem verwinkelten Dachboden bis zu seinem Ende folgen. Ein hohes Fenster stand offen, und von draußen konnte sie nun das Raunen einer Stimme hören. Langsam schob sich Alisa näher.
Das Fenster war der Zugang zu dem hölzernen Altan auf dem Dach, auf dem sich zwei Gestalten gegen den Nachthimmel abhoben. Alisa ließ den Blick nach links und nach rechts schweifen. Ein Stück weiter gab es noch ein kleineres Fenster, durch das sie problemlos auf das Dach steigen konnte, ohne von den Männern bemerkt zu werden. Sie dachte nicht weiter darüber nach. Schon war sie draußen auf dem Dach und schob sich hoch über den Gassen auf den abschüssigen Ziegeln an den Altan heran.
Was hatten die beiden zu bereden? Alisa spitzte die Ohren. Wie war es Menschen möglich, so leise zu sprechen? Sie konnte den Gondoliere hören, nicht aber, was der maskierte Mann im schwarzen Kapuzenumhang erwiderte.
Alisa schob sich noch näher. Nun konnte sie die Sätze hören, verstand sie aber nicht. In welcher Sprache unterhielten sich die Männer? Italienisch war das nicht, obwohl manches entfernt danach klang. Alisa stöhnte innerlich. Natürlich, viele sprachen hier Venetisch. Sie konnte nur einige Wörter aufschnappen. Den Namen »Richard Wagner«, verstand sie und: »Es werden alle da sein. Er wird eine neue Komposition vorstellen.«
Der Vermummte sprach wieder so leise, dass sie nur ein Murmeln vernahm. Er griff unter seinen Umhang und reichte dem anderen einen kleinen Beutel. Dann wandte er sich um und schlüpfte unter der Brüstung des Altan hindurch, während der Ruderer auf den Dachboden zurückkehrte.
Wem sollte sie folgen? Sie brauchte nur einen Augenblick, sich zu entscheiden.
Leo, der Gondoliere kommt zurück. Ich folge dem Maskierten.
Schon hatte er den First erreicht und eilte leichtfüßig auf der anderen Seite das Dach wieder hinunter.
Sei vorsichtig!
Alisa antwortete nicht. Geduckt huschte sie im Schutz der Kamine das Dach hinauf und lugte über den First. Er war bereits auf der anderen Seite und lief nun, noch immer unglaublich schnell und sicher, auf die Dachkante zu. Dann breitete er die Arme aus und sprang. Geschickt landete er auf dem nächsten Dach und lief weiter. Es war ein Satz von mehr als fünf Metern. Für einen Vampir gar kein Problem! Alisa ließ ihm noch einen Atemzug lang Vorsprung, dann sprang sie hinterher. Sie flitzte über das Dach. Sie durfte ihn nicht aus den Augen verlieren. Im Laufen sog sie tief die Luft ein, um seine Fährte aufzunehmen, doch es roch nach keiner menschlichen Spur. Es roch eher nach Asche und Staub und kitzelte ihr in der Nase.
Der Schemen wandte sich nach rechts. Sie überquerten zwei weitere Dächer. Alisa sah, dass sich unter ihr rechterhand ein weitläufiger Campo öffnete, an dessen Ende sich auf der anderen Seite eine Backsteinkirche mit einem hohen Kirchenschiff erhob. Der Mann lief mit wehendem Umhang auf die Dachkante zu. Wollte er etwa zur Kirche hinüberspringen? Das waren weit mehr als ein paar Meter! Für einen Menschen nicht zu schaffen.
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