Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Selbst Alisa zweifelte, ob einem Vampir solch ein Sprung gelingen konnte, aber der Vermummte hielt unvermindert auf den Abgrund zu. Die Häuser waren hier vier Stockwerke hoch! Ein Sturz auf die Gasse würde ihm alle Knochen brechen. Doch er ignorierte die Gefahr, beschleunigte sogar noch und breitete dann die Arme aus.
Alisa hielt inne. Sie glaubte ihren Augen nicht trauen zu können. Der Wind blähte den Umhang und trug ihn auf die andere Seite, wo er sicher auf dem Kirchendach landete und einfach weiterlief, als wäre nichts geschehen.
Das war nicht möglich! Oder doch? Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. Dann hatte Clarissas Schilderung also der Wahrheit entsprochen und war keine Übertreibung einer jungen, überspannten Frau gewesen.
Alisa lief weiter. Nein, so einfach würde er ihr nicht entkommen! Sie hatte zwar keinen solchen Umhang, mit dem sie über den Campo segeln konnte, dafür standen ihr die Fähigkeiten der gesamten Tierwelt offen.
Alisa rannte auf die Kante zu, während sie wie gewohnt die Nebel der Wandlung rief. Ihr Fuß berührte bereits die Dachrinne, als sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Ein herzhaftes Niesen schüttelte ihren Körper und zerriss den Energiestrom, der ihr für die Wandlung Kraft gab.
Es war zu spät, um noch zu stoppen. Ihre Füße stießen sich bereits von der Kante ab. Ihr Körper schnellte nach vorn auf die Kirche zu. Vielleicht würde sie den Sprung schaffen?
Nein!
Alisa spürte, wie sie an Höhe verlor. Die Backsteinmauer raste auf sie zu. Sie dachte mit aller Kraft an die Gestalt der Fledermaus, doch es waren nur Arme und Hände, die hilflos in der Luft ruderten. Ihr Körper klatschte gegen die Backsteinwand und fiel dann rücklings in die Schwärze unter ihr. Mit einem schauderhaften Geräusch schlug Alisa auf dem Pflaster auf. Der Schmerz raubte ihr kurz die Sicht. Sie versuchte, sich zu bewegen, doch sie hatte das Gefühl, in finsterem Nebel zu versinken.
Nein, nein, nein! Sie musste aufstehen und dem Mann hinterher, der sie ganz sicher zu Clarissas Versteck führen würde. Alisa biss die Zähne zusammen und unterdrückte das aufsteigende Stöhnen. Der Schmerz war schrecklich, doch nichts, was einen Vampir aufhalten konnte. Sie musste nur die Augen öffnen und sich aufrichten und dann aufstehen.
»Aua!«
Sie spürte, wie der gesplitterte Knochen ihres Beins das Fleisch durchschnitt. Da erklang ein Rauschen an ihrem Ohr, das ihr für kurze Zeit den Schmerz nahm. Ein Lufthauch strich über ihre Wangen, dann spürte sie eine kalte Hand in der ihren.
»Wenn man dich mal für ein paar Minuten aus den Augen lässt«, hauchte ihr eine Stimme ins Ohr, doch sie klang eher zärtlich als vorwurfsvoll.
»Wir müssen ihm hinterher!«, sagte sie undeutlich. Sie konnte zwar die Augen öffnen, doch das Gesicht über ihr wollte keine Konturen annehmen.
»Du machst heute Nacht gar nichts mehr«, widersprach Leo.
»Dann musst du es tun. Schnell! Flieg ihm hinterher. Noch kannst du ihn einholen. Er ist über die Gasse zum Kirchendach hinübergeflogen.«
»Was ihm offensichtlich besser gelungen ist als dir.«
Tiefe Scham überflutete sie. »Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Aber nun geh! Beeile dich!«
Sie spürte, wie Leo den Kopf schüttelte. »Ich lasse dich nicht völlig zerschlagen hier vor dem Kirchenportal liegen. Für heute Nacht bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Niederlage einzugestehen.«
Sie spürte, wie er sie aufhob. Sie fühlte sich geborgen in seinen Armen, und dennoch nagte der Zorn in ihr. Wie hatte sie derart versagen können? Seit Jahren beherrschte sie Wandlungen.
»Ja, das ist eine Frage, der wir nachgehen sollten. Doch nicht jetzt. Schlaf, wenn du kannst. Ich bringe dich zurück in unser Versteck, wo dein Körper sich während des Tages erholen kann.«
Alisa schwieg. Sie glitt durch nebelhafte Traumwelten. Sie hörte Wasser plätschern und dann schwankte der Boden unter ihr. Als sie kurz die Augen öffnete, sah sie Leos Silhouette gegen den nachtschwarzen Himmel aufragen, wie er am Heck der Gondel stand und den Riemen sanft hin- und herbewegte, während sein Blick auf Alisa gerichtet blieb.
D RACAS UND V AMALIA
Sie erreichten die Endstation des Zuges. Die Lokomotive stieß noch einmal einen letzten Pfiff aus, dann kam sie mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Noch ein letztes Ruckeln. Türen wurden aufgerissen. Reisende stiegen die Treppen hinunter, Zugbegleiter reichten Koffer, Taschen und Hutschachteln nach
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