Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
dachte, sich verhört zu haben. Sie beugte sich näher zu den schwarz verkrusteten Lippen herab.
»Töte mich!«, formten sie.
Nicoletta glaubte zu wissen, woher dieser Wunsch rührte. »Du musst Geduld haben. Die Schmerzen werden vergehen. Du bist ein Vampir. Mein Vater sagt, ihr könnt euch regenerieren.«
Die Vampirin schüttelte unter Mühen den Kopf. »Du verstehst das nicht. Es hat nicht funktioniert. Ich bin eine Unreine. Wir regenerieren uns jeden Tag, wenn wir schlafen.«
»Was bedeutet das, unrein?«
Die Stimme der Vampirin klang noch immer rau, und das Sprechen schien sie anzustrengen, aber sie sprach weiter.
»Ich war einst ein ganz normales Mädchen, naiv und verwöhnt, bis ich in Wien Luciano traf.«
»Einen Vampir?«
»Ja«, hauchte sie. »Wir haben uns ineinander verliebt und er hat mich verwandelt. Ich wollte es nicht. Ich wusste ja nicht, was er ist.«
»Und du liebst ihn noch immer?«
»Ja«, sagte sie, aber da war wieder dieser tiefe Schmerz. Sie richtete sich unter Mühen ein wenig auf und sah an sich herunter. Nicoletta konnte ihre Verzweiflung spüren.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Mein Name ist Clarissa«, sagte sie und wiederholte dann: »Vernichte mich! Bring zu Ende, was du begonnen hast.«
»Nein!«, protestierte die Oscuro. »Es war ein Unfall. Ich will dich nicht töten.«
»Das tut jetzt nichts mehr zur Sache. Erlöse mich, denn es bricht mir das Herz, mich so in seinen Augen zu sehen. Er liebt meine schöne Gestalt, mein Gesicht mit der makellosen weißen Haut und mein langes Haar. Wie könnte er mich als hässliches Scheusal noch lieben?«
»Wenn er dich wirklich liebt, wird ihm das nichts ausmachen«, behauptete Nicoletta, doch so ganz sicher war sie sich nicht. Auch bei den Oscuri wurden schöne Frauen bewundert und begehrt. Konnte Liebe wirklich selbstlos und frei von äußerem Schein sein?
»Vielleicht brauchst du nur mehr Zeit? Die Sonne ist der Feind der Vampire. Kann es nicht sein, dass Verletzungen durch Sonnenstrahlen nicht so schnell heilen wie andere Blessuren?«
Clarissa überlegte. »Ich weiß es nicht.«
»Gut, dann gedulde dich, und ich bin überzeugt, deine Schönheit wird zurückkehren. So schnell wirst du deinem Luciano eh nicht unter die Augen treten. Ich weiß nicht, was die Familie beschlossen hat, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie vorhaben, dich in den nächsten Tagen freizulassen.«
»Luciano wird mich suchen und finden, und dann wird er mich befreien. Das könnt ihr nicht verhindern«, behauptete Clarissa.
Nicoletta lächelte überlegen. »Das glaube ich nicht. Wie sollte er unser Versteck finden? Bisher ist es noch niemandem gelungen, uns aufzuspüren. Kein Mensch … «
Clarissa fiel ihr ins Wort. »Luciano ist aber kein Mensch. Er ist ein Vampir mit mächtigen magischen Fähigkeiten, von denen du dir keine Vorstellung machen kannst, und er wird nicht ruhen, bis er mich gefunden hat. Er darf mich so nicht sehen! Ich könnte es nicht ertragen, die Abscheu in seinen Augen zu sehen. Das ist schlimmer als sterben.«
Nicoletta war nicht überzeugt. »Warte einfach ab und schlaf und lass der Natur ihren Lauf. Er kann dich hier nicht aufspüren. Auch wir verfügen über Magie, das müsste dir doch aufgefallen sein, oder ist es für normale Menschen so einfach, einen Vampir zu überraschen und sich seiner zu bemächtigen?«
»Nein«, musste Clarissa zugeben.
Sie schwiegen eine Weile und betrachteten einander. Nicoletta hatte bei ihrem heutigen Besuch auf ihre Maske verzichtet, und so konnte Clarissa zum ersten Mal ihr Gesicht sehen.
»Du bist noch sehr jung«, sagte sie scheinbar zusammenhangslos.
»Ich bin schon vierzehn!«, gab Nicoletta zurück und reckte ihre schmächtige Gestalt, die bereits erahnen ließ, dass sie sich zu einer schönen, jungen Frau entwickeln würde. Hübsch war sie jetzt schon mit ihrem dunklen Haar, den fast schwarzen Augen und den feinen Gesichtszügen.
»Nimm dir Zeit und prüfe gut, wem du dein Herz schenkst. Die Liebe ist ein scharfes Schwert, das tiefe Wunden reißt, die noch schlechter heilen als Wunden, die die Sonne einem Vampir zufügt. Erfreue dich an deiner unbeschwerten Jugend, solange es möglich ist.«
Nicoletta schnaubte abfällig durch die Nase. »Ich interessiere mich nicht für Jungen. Sie sind eingebildet und grob. Und sie denken, sie könnten alles besser als Mädchen. Aber ich bin schneller und schlauer als sie!«
»Die Zeit wird kommen, da trifft dich die Liebe wie ein Blitz
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