Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
weiß es nicht, aber vermutlich so dünn wie nur möglich, da die Last des Hauses auf Pfählen ruht, die man in den Lagunenschlamm gerammt hat. Es war stets die Kunst, so leicht wie möglich zu bauen und das Gewicht gleichmäßig zu verteilen.«
»Eben! Wenn du dir aber die Außenmaße ansiehst und dann die Breite der Halle, dann könnte man die Mauer einer mittelalterlichen Burg vermuten.«
Leos Miene hellte sich auf. »Ein geheimer Lagerraum. Sehr schlau. Dann wollen wir uns mal dranmachen, den Eingang zu suchen.«
Nach und nach kamen die anderen herunter und halfen ihnen, nachdem sie in den oberen Stockwerken nichts gefunden hatten.
Es war Tammo, der schließlich den losen Ziegelstein fand, der den Mechanismus der verborgenen Tür in Gang setzte. Neugierig versammelten sie sich vor der Öffnung und spähten in einen langen, schmalen Raum, der voll von Kisten war. Die Vampire traten ein und öffneten einige von ihnen.
»Nein, wie schön!«, rief Alisa. »Ist das ein Tizian? Er war Venezianer und hat sein Leben lang hier gemalt, nicht wahr?«
Anna Christina öffnete eine kleine Truhe, die herrliche Schmuckstücke enthielt.
Leo pfiff durch die Zähne. »Clarissa und Luciano haben sich also ausgerechnet das Versteck einer Diebesbande zu ihrem neuen Wohnsitz gewählt. Das konnte ja nicht gut gehen.«
***
Als ihr Vater und die anderen Oscuri das Hauptquartier im Arsenal verlassen hatten, zog Nicoletta den Schlüssel aus ihrer Tasche und stieg noch einmal zu dem steinernen Gelass herab, in dem die Vampirin in ihrem Todesschlaf lag. Sie musste nicht befürchten, überrascht zu werden. Außer ihr war nur noch der frühere Anführer Tommaso im Haus, doch der konnte, seit einem Unfall vor vielen Jahren, seine Beine nicht mehr benutzen und saß wie immer auf einem Diwan in seinem Gemach.
Nicoletta wusste nicht so recht, warum sie das tat, doch das fremde Wesen faszinierte sie. Es war eine Mischung aus Bewunderung und Furcht, und vielleicht drückte sie noch immer das schlechte Gewissen, für ihren Zustand verantwortlich zu sein. So kam es ihr fast ein wenig wie ausgleichende Gerechtigkeit vor, dem Vampir ihr Blut geopfert zu haben.
Nicoletta fühlte sich schwach und musste sich am Geländer festhalten, um nicht die Treppe hinunterzustolpern. Draußen war es längst dunkel geworden. Wie Vampire waren auch die Oscuri auf gewisse Weise Wesen der Nacht, die im Verborgenen lebten und von den Menschen gefürchtet wurden, vielleicht, weil sie sie nicht kannten und nicht verstanden.
»Siehst du, wir sind gar nicht mal so verschieden«, murmelte Nicoletta, als sie an das Bett trat und auf die regungslose Gestalt mit ihren schaurigen Verbrennungen herabsah.
»Ich kenne nicht einmal deinen Namen. Ich weiß nur, dass du ein Vampir bist, der sich vom Blut Unschuldiger nährt, ein Ungeheuer der Nacht, doch sind wir das nicht auch ein wenig?«
Wieder schwieg Nicoletta und sah auf das ihr fremde Wesen herab.
Warum erwachte sie nicht? Endete der Todesschlaf der Vampire nicht jeden Tag, wenn die Sonne versank? Waren ihre Verbrennungen doch so stark, dass sich ihr Körper nicht wieder regenerieren konnte?
Nicoletta wollte sich gerade abwenden, um in ihr Bett zurückzukehren, als der Körper der Vampirin zuckte. Ein Stöhnen, das nach Schmerz klang, entrann ihren Lippen. Dann begann sie etwas zu murmeln. Nicoletta trat näher, um die Worte zu verstehen. War das ein Name? Er klang wie Luciano, doch ihre nächsten Worte waren nicht italienisch. Sprach sie Deutsch? Ja, es hörte sich so an, wie die österreichischen Besatzer gesprochen hatten. Viele waren nicht mehr in der Stadt, seit Venedig zum Königreich Italien gehörte. Doch einige Untertanen der Habsburger zogen es noch immer vor, hier in Venedig zu leben, obgleich sie von den Venezianern nicht gern gesehen wurden. Allerdings musste man zumindest die, die Geld mitbrachten, dulden. In Zeiten, da nicht mehr der Fernhandel Reichtum in die Stadt schwemmte, mussten dies wohlhabende Fremde übernehmen, die sich mehr oder weniger lange hier aufhielten, ausgelassen Karneval feierten und die Künste der Stadt bewunderten.
Wieder stöhnte die Vampirin, dann hoben sich ihre Lider, doch Nicoletta war sich nicht sicher, ob sie wach war. Sie hob ihre Kerze und ließ den Schein über den geschundenen Körper wandern. Plötzlich wurde der Blick klar, und Nicoletta erkannte, dass der Schmerz in ihm nicht allein die körperliche Pein widerspiegelte.
»Vernichte mich!«
»Was?« Nicoletta
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