Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
noch so kleiner Mangel entging.
»Der Ballsaal ist nicht gerade groß, und hier hinten ist der Terrazzoboden überall gebrochen. Überhaupt finde ich diesen Boden nicht gerade schön. Wenn ich da an unsere Marmorböden in Wien denke. Der Brokat der Polster ist verblichen und abgewetzt und die Spiegel sind blind … «
»Was ich nicht gerade als unangenehm empfinde, werte Cousine«, beendete Leo ihre Litanei. »Darf ich dich daran erinnern, dass wir nicht hier sind, weil wir diesen Palazzo kaufen wollen. Wir suchen die Spuren der maskierten Schemenmänner!«
Anna Christina verstummte und folgte den anderen in einigem Abstand bis hinauf unters Dach, wo die Särge gestanden hatten und eine Tür auf die Loggia hinausführte. Tammo sah sich überall neugierig um und musste herzhaft niesen.
»Ich rieche gar nichts«, musste er zugeben, »aber das kitzelt scheußlich in der Nase. Ist es das, was dich zum Abstürzen gebracht hat?«, erkundigte er sich bei seiner Schwester, die sich noch immer sehr bedacht bewegte.
»Du kannst es ja mal ausprobieren«, schlug sie vor.
»Keine schlechte Idee«, pflichtete ihr Leo bei. »Versuch es! Wandle dich!«
»Was wollt ihr sehen?«, erkundigte sich Tammo großspurig und nieste noch einmal. »Einen Adler? Eine Fledermaus oder einen Wolf?«
»Einen Wolf«, entschied Leo, »das ist am einfachsten. Er steht uns am nächsten.«
»Nun gut«, stimmte Tammo ihm zu. »Das ist eine meiner leichtesten Übungen.«
Alisa spürte, wie er seine Kräfte zusammenzog und auf einen Punkt konzentrierte. Er beschwor das Bild des Wolfes herauf und ließ die wirbelnden Nebel aufsteigen, die jede Wandlung begleiteten.
Doch dann zog er eine Grimasse, sog tief die Luft ein und nieste wieder. Der grünliche Nebel stob davon und Tammo setzte sich unsanft auf seinen Hosenboden. Verwirrt sah er zu den anderen auf. In Lucianos Miene stand Belustigung, Hindrik sah eher entsetzt drein und Alisa besorgt. Anna Christinas Miene war nicht zu deuten.
»So ein Mist«, fluchte Tammo. »Ich hätte nicht gedacht, dass mir eine einfache Wandlung in einen Wolf noch mal misslingt.« Er erhob sich und ging auf die Tür zur Loggia zu, doch Anna Christina hielt ihn zurück.
»Es mag ja sein, dass ein gewisser Bartwuchs einen Jüngling männlicher erscheinen lässt. Von so viel Fell im Gesicht würde ich allerdings abraten.«
Verblüfft tastete Tammo über seine Wangen. Jetzt verstand er auch die besorgten Blicke. Sein Gesicht war komplett mit Fell bedeckt! Es war schon schlimm genug, eine Wandlung nicht zu schaffen, in der Hälfte einer Verwandlung stecken zu bleiben, konnte dagegen eine Katastrophe bedeuten!
»Oh nein, und wie bekomme ich das nun wieder weg?«
»Das sehen wir später«, beeilte sich Alisa zu sagen.
»Du versuchst es jedenfalls nicht hier und auch nicht allein«, warnte Leo. »Wir wissen nicht, was noch alles passieren kann, wenn unsere Kräfte derart beeinträchtigt werden. Hier im Haus müssen wir jedenfalls sehr vorsichtig vorgehen.«
Sie stiegen noch hinauf aufs Dach, doch wie Luciano gesagt hatte, fanden sie auch dort keine Spur von den Kisten, die die Männer durch das Wassertor in den Palazzo gebracht hatten.
»Ich habe auch nichts gefunden«, gab Tammo zu. Den anderen war es nicht besser ergangen.
Betrübt gingen sie wieder in die große Halle hinunter, in der sich früher vermutlich Unmengen an Handelsgütern gestapelt hatten, die nun aber leer war. Langsam drehte sich Alisa um ihre Achse.
»Wir müssten ihre Spuren zumindest hier am Tor wittern können. Doch es hängt nur dieser seltsame Geruch, der uns betäubt, in der Luft. Dann machen wir es doch wie bei unserer Suche nach Clarissas Entführer: Suchen wir den Teil des Hauses, an dem wir am wenigsten wittern, und ich wette mit euch, dort ist das Versteck!«
Sie verteilten sich und suchten aufmerksam jeden Raum ab. Es war Alisa, die auf die richtige Spur stieß, wobei es nicht der kaum wahrnehmbare Geruch war, der sie stutzig machte. Sie hatte zuerst den Garten durchsucht und war dann in die Halle zurückgekehrt, als ihr etwas auffiel. Sie ging noch einmal in den Hof, stieg dann die Treppe hinauf und kehrte wieder in die Halle zurück. Leo gesellte sich zu ihr.
»Du machst ein Gesicht, als hättest du des Rätsels Lösung entdeckt.«
»Vielleicht«, sagte sie langsam, während sie an der Wand entlangging, die an den Palazzo nebenan stieß.
»Wie dick, schätzt du, sind die Mauern dieses Palastes?«
Leo hob die Schultern. »Ich
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