Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
er.
»Genau!«, rief Alisa und sah zu Hindrik, der nun interessiert näher kam.
»Versteht ihr denn nicht? Als ich vor ein paar Nächten diesen Mann auf den Dachboden der Osteria verfolgte, sprach er mit einem der Schemen. Ich konnte den Namen Richard Wagner hören und etwas über eine Komposition. Er sagte so etwas wie: Es werden alle da sein.« Alisa tippte auf die Zeitung. »Das hat er gemeint.«
Nun mischte sich Luciano ein. »Als ich beim Fenice war, habe ich die Leute reden hören, dass Wagner in Venedig ist und für seinen Aufenthalt eine Etage im Palazzo Vendramin gemietet hat.«
»Und genau dort wird morgen ein großer Maskenball veranstaltet, auf dem er eine seiner neuen Kompositionen vorstellen wird. Hier ist eine Liste der prominenten Gäste, die zu diesem Ereignis erwartet werden. Viel ausländischer Adel. Was glaubt ihr wohl, was das bedeutet? Es wird ein Schaulaufen der Juwelen geben, bei dem sich der venezianische Adel sicher nicht von den Gästen aus dem Ausland übertrumpfen lassen will.«
Hindrik nickte. »Ja, ich glaube, du hast recht. Dann sollten wir uns morgen zum Ca’ Vendramin aufmachen. Es dürfte ja nicht schwer sein, herauszufinden, wo sich dieser Palazzo befindet.«
»Ich vermute einmal, am Canal Grande in höchst repräsentativer Lage«, ergänzte Alisa, deren Augen vor Aufregung glänzten.
»Dieses Mal kriegen wir sie! Wir lassen uns nicht abschütteln, und dann werden sie uns direkt zu ihrem Versteck führen und zu Clarissa!«
Sie schaute zu Luciano hinüber, in dessen Miene sie nun ebenfalls Hoffnung aufkeimen sah.
***
Clarissa erwachte, sobald der letzte Sonnenstrahl erlosch. Sie schlug die Augen auf und sah zur Decke über sich, die von einem Netz von Rissen durchzogen wurde. Der Putz blätterte überall von Wänden und Decke, und auch das Bett, auf dem sie lag, wäre für das junge Mädchen, das sie einst gewesen war, alles andere als akzeptabel gewesen. Doch jetzt interessierte sie das alles nicht mehr. Clarissa erhob sich und verließ die Ruine. Sie trat an den ebenso zerfallenen Kai, an dem ihre Gondel in der Nacht festgemacht hatte, und sah über die Lagune hinaus. In der Ferne bewegte sich ein Licht auf und ab. Vielleicht ein Schiff, das dort draußen vor Anker lag?
Sie versuchte, sich anhand der Sterne zu orientieren. Wenn sie sich recht erinnerte, dann musste das hier Süden sein und Venedig von ihr aus im Norden liegen.
Clarissa folgte dem Ufer und spazierte entlang eines verwilderten Gartens, der, seiner Anlage nach, das Kloster einst mit Heil- und Küchenkräutern und dem ein oder anderen Gemüse versorgt hatte. Der Häuserkomplex, der sich nach und nach aus der Finsternis schälte, musste das Kloster sein. Ein Kirchturm ragte vor ihr auf, um den sich lang gestreckte Gebäude um einen quadratischen Hof scharten, der einst der Kreuzgang für die Prozessionen der Mönche oder Nonnen zur Kirche gewesen sein musste.
Ein paar der Nebengebäude wirkten ähnlich ruinenhaft wie ihr Versteck, doch die Bauwerke um die Kirche selbst schienen in besserem Zustand. Clarissa sah zu den mit Eisengittern verwehrten Fenstern hinauf, die neueren Datums sein mussten. War das Kloster irgendwann einmal als Gefängnis genutzt worden?
Clarissa ging weiter, bis sie eine Pforte erreichte. Sie legte die Hand auf die Klinke, als ihr ein Duft in die Nase stieg, der sie trocken schlucken ließ.
Menschen! Frisches, warmes Blut. Irgendwo dort drinnen gab es Leben.
Clarissa hatte so lange nicht mehr getrunken, dass ihr Verstand nicht mehr in der Lage war, die Oberhand zu behalten. Nun übernahmen ihre Instinkte! Sie trieben sie um den Gebäudekomplex herum bis zur Kirche. Sie fand eine Pforte, die klemmte, nicht aber verschlossen war. Die Kirche konnte sie betreten, selbst wenn es sie unangenehm schmerzte. Clarissa eilte lautlos durch das Kirchenschiff und verließ es durch das Hauptportal.
Sie musste nicht überlegen. Etwas in ihr, über das ihre Gedanken keine Macht hatten, führte sie den rechten Weg, und ehe sie es sich versah, lief sie durch den Kreuzgang und huschte eine Treppe hinauf. Als sie die Tür aufschob und in den langen Flur trat, traf sie der Geruch mit solcher Macht, dass sie einen Schritt zurückwankte. Menschen! Eine Mischung aus körperlichen Ausdünstungen, über die sie als Mensch sicher die Nase gerümpft hätte, und der Aura starker Gefühle, die vermutlich auch nur auf einen Vampir anziehend wirkten und bei Menschen eher Mitleid oder auch Bestürzung
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