Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
manchen der Frauen und jungen Mädchen, die ihr bekömmlich schienen, trank sie, bis der nagende Hunger endlich gestillt war. Jetzt fühlte sie sich besser, und auch die Schmerzen in ihrem Körper waren erträglicher. Sie kam sich in ihren Bewegungen zwar immer noch ein wenig steif vor, doch sie konnte wieder leichter ausschreiten, ohne hin und her zu wanken.
Clarissa verließ das alte Kloster. Die Nacht war noch jung, und da sie die Herbstkälte nicht spürte, ließ sie sich am Ufer nieder und sah über das Wasser. Glatt und schwarz breitete es sich vor ihr aus, bis es auf den sich herabsenkenden Nachthimmel stieß. Dort am Horizont ahnte sie die Stadt, die sich so märchenhaft unwirklich aus dem Wasser erhob. Dort irgendwo war Luciano.
Vermisste er sie? Suchte er noch nach ihr oder hatte er aufgegeben? Würde er zu seinem Clan nach Rom zurückkehren, nun, nachdem sie nicht mehr zwischen ihm und seiner Familie stand? Würde er sich den Wünschen des Conte beugen und Giulia zu seiner Gefährtin nehmen, um den Nosferas den lang ersehnten Nachwuchs zu schenken?
Der Gedanke schmerzte sie mehr als ihre Brandwunden. Sie sehnte sich so sehr nach ihm. Sie wollte seine Arme um sich spüren, seine Küsse auf ihren Lippen. Sie wollte am Morgen in seinen Armen einschlafen und am Abend in der Gewissheit erwachen, dass er noch immer bei ihr war.
Nicoletta hatte gesagt, sie würde sie gehen lassen, wenn sie bereit waren, Venedig den Rücken zu kehren. Ein Wort von ihr würde genügen, dann würde sie Clarissa in ihrer Gondel nach Venedig hinüberrudern.
Nein!
Es war nicht möglich. Was hatte die seltsame Frau dort im Kloster zu ihr gesagt?
Hast du mal in einen Spiegel gesehen? Weißt du, wie scheußlich du aussiehst?
Das wollte sie ihm nicht zumuten.
Das durfte sie ihm nicht antun.
Nein, sie würde bei ihrem Entschluss bleiben, ganz egal, wie viel Zeit Nicoletta ihr ließ. Sie hatte sich entschieden. Ihre Zeit war abgelaufen.
Clarissa sah über das Wasser und dachte über die Konsequenzen ihrer Entscheidung nach. Es war ganz einfach. Sie musste nur hier am Ufer sitzen bleiben und warten, bis die Sonne aufging, auf dass sie ihr vernichtendes Werk vollenden konnte, das sie bereits so eindrucksvoll begonnen hatte.
Clarissa horchte in sich hinein.
Es würde schmerzhaft werden, aber das schreckte sie nicht. Sie fürchtete sich nicht vor dem Tod. Sie wusste, wie er sich anfühlte. Und doch stieg ein Gefühl von Trauer in ihr auf. Zum ersten Mal empfand sie ihre Wandlung so, wie Luciano es gemeint hatte: als Geschenk. Als ein neues Leben voller aufregender Chancen, angefüllt mit neuen Sinneseindrücken. Ein aufregender Tanz durch die Nacht, an der Seite des Mannes, den sie liebte.
Warum hatte sie sich so lange dagegen gewehrt?
Warum ihm gezürnt und ihm Vorwürfe gemacht?
Ja, selbst die Nosferas kamen ihr mit ihren seltsamen Ansichten über Unreine nicht mehr so schrecklich vor. Der Conte war ein gutmütiger Führer seines Clans. Vielleicht hätte sie einen Weg mit ihm gefunden, wenn sie auf ihn zugegangen wäre und mit ihm gesprochen hätte.
Clarissa starrte über das Wasser und bedauerte die Zeit, die sie verloren hatte. Nun war es zu spät. Nun würde es kein Zurück mehr geben. Das war das Ende. In wenigen Stunden würde nur noch ihre Asche an sie erinnern, die der Morgenwind mit sich nehmen und hinaus auf die Lagune tragen würde.
Da ließ ein Schatten hinter ihr sie herumfahren.
»Ach, hier bist du«, begrüßte sie Nicoletta, und ihre Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie ließ sich neben Clarissa auf die bröckelnde Kaimauer sinken und folgte ihrem Blick über die nächtliche Lagune hinaus.
»Ich habe dir Blut mitgebracht.«
Clarissa nahm den Behälter dankend entgegen und trank das schal schmeckende Tierblut, um Nicoletta nicht zu kränken, und vielleicht auch, um ihr nicht sagen zu müssen, wie sie ihren Hunger gestillt hatte.
»Was ist das für ein seltsamer Ort, an den du mich gebracht hast?«, erkundigte sich Clarissa und konnte sich eines Schauderns nicht erwehren.
»Du warst im Kloster«, vermutete Nicoletta und seufzte.
»Ja, ich habe die bemitleidenswerten Kreaturen gesehen, die sie wie wilde Tiere in Käfige sperren, an Betten fesseln oder mit allerlei Pillen ruhigzustellen versuchen. Ich habe Apparaturen gesehen, die mich mit tiefstem Schrecken erfüllen. Ich will nicht wissen, wofür sie dienen und was die Doktoren dort mit ihren Patientinnen anstellen. Ich habe die Angst und
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