Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
den Schmerz gerochen, der dort aus jeder Fuge der Wände dringt!«
Nicoletta nickte und seufzte noch einmal. »San Clemente ist ein trauriger Ort geworden, das ist wahr, doch das war er nicht immer. Schon im Mittelalter hat man hier eine Kirche errichtet, ehe sich Augustinermönche auf der Insel niederließen. Sie bauten ein Hospital für Pilger, die auf dem Weg ins Heilige Land waren. Später verließen die Augustiner das Kloster und es zerfiel. Der Orden der Barmherzigen Brüder hat es dann wieder aufgebaut. Danach kamen die Kamaldulenser, die blieben, bis Napoleon ihren Orden aufhob und sie vertrieb. Stattdessen wurde in den am besten erhaltenen Gebäudeteilen um die Kirche herum eine Anstalt für Frauen eingerichtet, die, wie man sagt, ihrer Sinne nicht mächtig sind. Eine gute Lösung für alle!« Nicolettas Stimme nahm einen sarkastischen Klang an.
»Hier sind sie in Sicherheit. Man kann sie vor sich selbst und die Stadt vor ihnen schützen, und der Dorn ist aus dem Auge. Eine bewährte Art Venedigs, seine Probleme zu lösen oder besser gesagt, auszulagern.
Es gibt in der Lagune rund um die Stadt zahlreiche Siechen- und Seucheninseln, Gefängnisse, Lazarett- und Quarantänestationen und eben auch die Inseln der Verrückten. Wehe dem, der einmal hinter diese Mauern gerät! Es gibt kein Zurück mehr, wenn sich die eisernen Tore erst einmal geschlossen haben. Ich habe mich manches Mal gefragt, wie sie es aushalten, aus dem Fenster über die Weite der Lagune hinauszusehen und doch die Freiheit niemals wieder in Händen zu halten.«
»Welch passenden Ort du für mich ausgesucht hast«, sagte Clarissa und konnte nicht verhindern, dass ihre Worte bitter klangen. Nicoletta wehrte erschrocken ab.
»Das hat nichts mit dir zu tun! Es ist nur ein gutes Versteck, denn die Menschen Venedigs und selbst die Oscuri meiden diesen Platz. Hier werden sie nicht nach dir suchen. Nur deshalb habe ich diese Insel gewählt.«
Clarissa nickte. »Ich glaube dir, und dennoch ist der Ort vielleicht mehr als nur ein Versteck. Vielleicht ist er ein Wink des Schicksals und soll mich etwas lehren.«
»Und was?«, fragte Nicoletta nach einer Weile.
»Ich bin mir nicht sicher«, gab Clarissa zurück.
Lange saßen sie noch auf der Mauer, während das eisige Lagunenwasser zu ihren Füßen anstieg und sich dann langsam wieder zurückzog. Endlich erhob sich Nicoletta.
»Ich muss jetzt gehen. Ich sollte in meinem Bett liegen, ehe mein Vater und die anderen zurückkommen. Die Vorbereitungen sollten nun abgeschlossen sein. Morgen kann ich nicht kommen. Ich werde die Männer bei ihrem großen Coup begleiten.«
»Die Männer?«
Nicoletta nickte. »Ja, meinen Vater, den Padre der Oscuri, seine Brüder und deren Söhne.«
»Keine Frauen und Mädchen«, stellte Clarissa fest. »Wie so vieles eine Welt der Männer, und dennoch bist du mit dabei?«
Nicoletta nickte und strahlte vor Stolz. »Ja, ich bin gut, und sie haben mich oft gebraucht, weil ich die Kleinste war, schlank und wendig und durch jedes noch so schmale Fenster kriechen konnte. Nicht allen gefällt das, aber solange mein Vater sie anführt, werden sie nur im Stillen darüber murren, dass ich an ihrer Seite bin.«
»Und die anderen Frauen und Mädchen der Oscuri? Es gibt sie doch, die Mütter und Töchter?«
Nicoletta nickte. Ein schwermütiger Zug legte sich um ihren Mund. »Ja, es gibt sie, die Gemahlinnen meiner Onkel und Cousins mit ihren Töchtern. Sie leben im Verborgenen, irgendwo in Venedig unter anderen Frauen, genauso vor den Augen von Fremden verborgen und vom Leben auf den Gassen ausgeschlossen, wie es seit Jahrhunderten für hochwohlgeborene Venezianerinnen gilt. Sie waren der Stolz ihrer Männer und die Zierde ihrer Häuser. Dort waren sie Königinnen. Zu offiziellen Festen und Bällen kamen sie reicht geschmückt, um allseits Bewunderung zu erregen, doch den Rest ihrer Tage waren sie kaum besser dran als die moslemischen Frauen eines Harems! Sie werden mit Gold und Edelsteinen überschüttet, doch das Wertvollste, das das Leben zu bieten hat, werden sie niemals erlangen: Freiheit!«
Clarissa legte den Kopf schief und lauschte dem Klang ihrer Worte. Sie konnte die Angst spüren, die Nicoletta umtrieb.
»Freiheit«, wiederholte sie. »Ja, ich weiß, was du meinst. Auch die Töchter der Gesellschaft in Wien werden wohl behütet, und es bedarf viel List und mancher Lüge, den wachsamen Augen zu entgehen. Vielleicht musste ich mein Blut geben, weil auch ich zu sehr
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