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Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)

Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)

Titel: Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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dem Beutel unter ihrem Mantel.
    »Und nun hol ganz tief Luft«, raunte sie der Vampirin ins Ohr.
    Als sich Clarissas Brustkorb zitternd hob, warf Nicoletta eine Handvoll dunklen Staub in die Luft. Dann umklammerte sie die Vampirin.
    Sie wusste nicht, ob der Plan funktionieren konnte. Sie hatte nur einen Versuch. Wenn dieser schiefging, würden sie beide im Wasser landen. Vermutlich würde Clarissa nicht so schnell wieder erwachen und sie beide in die Tiefe reißen. Dann würden sie gemeinsam dort unten ein eisiges Grab finden.
    Nein! Es konnte klappen. Sie musste positiv denken. Sie war eine Oscuro!
    Ein Zittern durchlief Clarissas Körper, dann sackte sie zusammen. Genau in diesem Moment drückte sich Nicoletta von der Mauer ab und landete, den erschlaffenden Körper mit sich ziehend, in der Gondel.
    Clarissa fiel hart auf die Planken und brachte das lange, schlanke Gefährt gefährlich zum Schwanken. Nicoletta duckte sich und ergriff die Planken. Mit dem Oberkörper glich sie die heftigen Bewegungen des Bootes aus, bis dieses wieder ruhig auf dem Wasser lag. Dann erhob sie sich, löste die Taue und stieß den Riemen ins Wasser. Sie hatten einen langen Weg vor sich. Durch den Kanal zum Bacino, durch den Hafen und vorbei an la Giudecca und dann hinaus in die nächtliche Lagune. Es war schon bei Tag nicht ungefährlich. Wie viele Gefahren lauerten dort draußen bei Nacht? Nicht, dass sich eine Oscuro vor Gespenstern fürchtete oder an Ungeheuer der Tiefe glaubte. Dennoch wusste Nicoletta um die ganz realen Bedrohungen der Lagune. Sie wirkte nur beim ersten flüchtigen Blick wie ein Stück Weite des Meeres. Unter der Oberfläche lauerten Untiefen, wuchsen Wälder aus Tang und anderen Schlingpflanzen, die gierig nach jedem Riemen griffen, um ihn festzuhalten und dem Gondoliere zu entreißen. Sandbänke knirschten unversehens unte r dem Rumpf. Für große Überseeschiffe waren die wenigen sicheren Fahrrinnen in diesem Labyrinth durch mit Eisenbändern umspannte Eichenpflöcke markiert. Für kleine Boote gab es noch andere Wege, doch diese kannten nur die Eingeweihten und gaben sie auch nur an die weiter, die ihnen würdig erschienen.
    Ihr Vater hatte Nicoletta viele dieser heimlichen Pfade abseits der Bricole gezeigt, wo nur schmale, flache Gondeln ihren Weg fanden. Sie waren unzählige Male zusammen in die Lagune hinausgefahren, doch ohne die Orientierung anhand der Eichenpflöcke und dazu noch bei Nacht, wo man nur schlecht die verschiedenen bewohnten und unbewohnten Inselchen anpeilen konnte, verlor man schnell seinen Weg. Das war Nicoletta durchaus bewusst, doch sie tauchte das Ruder tief ein und ließ die Gondel durch die Wellen schießen. Sie würde es schaffen! Sie hatte gar keine andere Wahl. Sie hatte Clarissa versprochen, sie zu retten und ihr Zeit und Ruhe zu verschaffen, nun durfte sie nicht an einer Sandbank oder in einem Seetangfeld scheitern!
    Immer wieder sah sich Nicoletta um und überprüfte die Himmelsrichtungen anhand der Sterne. Außerdem musste sie die Strömung mit berücksichtigen.
    Die Silhouette einer Insel schälte sich zu ihrer Linken aus der Dunkelheit der Nacht. Das musste die Isola la Grazia sein, wo einst im Mittelalter ein Kloster mit einem Gasthaus für Pilger ins Heilige Land erbaut worden war. Später hatten Kapuzinerinnen die Insel und das Kloster übernommen, bis Napoleon den Orden Anfang des Jahrhunderts hatte aufheben lassen. Bis zu den Tagen der Revolution, als 1848 ein Pulvermagazin auf der Insel explodierte, hatte man Kranke mit ansteckenden Seuchen zur Quarantäne dorthin verfrachtet. In den heutigen Tagen wurden die Ruinen nur noch von Möwen zum Brüten aufgesucht. Nicoletta ruderte weiter und ignorierte das Ziehen, das sich in ihren Armen und dann von der Schulter her über ihren Rücken ausbreitete. Sie würde nicht aufgeben!
    Da endlich sah sie die Insel im Süden aus dem schwarzen Wasser auftauchen. Keine Laterne leitete ihr den Weg zum Anlegesteg. Der Glanz der Sterne musste ihr genügen. Ein Kirchturm erhob sich in den Nachthimmel. Düstere Gebäude tauchten auf. Schwarze Fensteröffnungen starrten zu ihnen herab, als Nicoletta begann, die Insel zu umrunden.
    Da regte sich etwas vorne im Boot. Ein Stöhnen erklang. Clarissa öffnete die Augen und richtete sich ein wenig auf.
    »Wie geht es dir?«, erkundigte sich Nicoletta, ihr Augenmerk wieder auf die Insel gerichtet und auf die kleine Bucht, die sie jetzt ansteuerte.
    Clarissa stemmte sich hoch und setzte sich auf.

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