Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
nach Freiheit gierte?«
»Aber nun hast du sie, und niemand wird sie dir wieder nehmen!«, rief Nicoletta mit so viel Leidenschaft, dass Clarissa begriff und die entscheidende Frage stellte.
»Und dir? Wird man dir deine Freiheit wieder nehmen?«
Nicoletta schwieg, und Clarissa dachte schon, sie wolle ihr diese Frage nicht beantworten, als sie schließlich hervorstieß: »Oh ja, das wird man, wenn mein Vater entschieden hat, dass es nun an der Zeit ist, meinen Vetter zu meinem Ehemann zu nehmen. Dann werde auch ich eine Haremsprinzessin auf einem seidenen Diwan sein, umgeben von Schmuck und Spezereien, der nichts bleibt als die Langeweile.«
Clarissa fragte nicht, ob sich Nicoletta der Entscheidung ihres Vaters beugen würde. Sie ahnte, dass sie keine Wahl hatte. Sie konnte nur hoffen, dass der Tag, der ihr Leben für immer verändern würde, noch fern war.
»Du bist erst vierzehn«, sagte sie.
»Vierzehn«, wiederholte Nicoletta mit einem Seufzer. »Alt genug, dass man mir einen Gatten wählt. Das meinen zumindest einige der Oscuri.«
»Gibt es denn einen, den du mögen würdest?«
Nicoletta schüttelte vehement den Kopf. »Michele möchte wohl, dass ich seinen Sohn Gabriele heirate. Ich mag ihn ganz gern, aber ich wollte keinen meiner Cousins zum Mann. Ich will überhaupt keinen Mann! Warum muss eine Frau unbedingt verheiratet werden? Warum kann ich nicht bei meinem Vater bleiben und mit ihm nachts durch die Stadt streifen, auf der Suche nach dem nächsten lohnenswerten Coup? Mehr will ich doch gar nicht!«
Clarissa dachte an ihren eigenen Vater und an das Leben in Wien, das nun so weit entfernt schien. Hätte er solch einen Wunsch akzeptiert? Wohl kaum!
»Kann er mir nicht diesen einzigen Wunsch, den ich habe, erfüllen?«, fügte Nicoletta mit Inbrunst hinzu und sah Clarissa anklagend an, so als wäre es auch ein wenig ihre Schuld.
»In seiner Macht läge es sicher. Er ist dein Vater und das Oberhaupt der Familie, aber er wird es nicht tun, egal, wie sehr er dich liebt. Das tut nichts zur Sache. Männer entscheiden stets so, wie sie es für richtig halten, und der Weg, den eine Frau ihrer Meinung nach einschlagen soll, ist seit Jahrhunderten fest in ihren Köpfen verankert.«
»In den Köpfen von Männern, ja«, stieß Nicoletta bitter hervor. »Nicht aber in den Köpfen von Vampiren.«
»Wenn du dich da nur nicht täuschst«, widersprach Clarissa, der ihre einsamen Nächte im Palazzo Dario deutlich vor Augen standen.
Sie erhob sich und kehrte in ihr Versteck in der Ruine zurück. Vielleicht war heute doch noch nicht der rechte Morgen, um zu sterben. Sie hatte Zeit. Die Sonne würde auch am nächsten Tag noch scheinen und am übernächsten.
B ALL IM C A ’ V ENDRAMIN
Wie erwartet, war es nicht schwer, den Palazzo ausfindig zu machen, in dem der große Maskenball stattfinden sollte. Es war ein imposanter, freistehender Bau am Nordufer des Canal Grande, der hier die Grenze zum Stadtteil Cannaregio bildete. Der Palazzo war Ende des fünfzehnten Jahrhunderts erbaut worden und verband die Elemente der klassischen Palazzi der goldenen Zeit Venedigs mit ihren prächtigen Rundbogenfenstern mit den damals neuen Stilelementen der Renaissance. Wie in Venedig allerorts üblich, war aber auch hier nur die Schaufassade zum Kanal üppig verziert, während die Seitenwände und die Rückseite zum Hof mit dem Landtor schlicht blieben.
Die Erben hatten sich in der Nacht zuvor in den Gassen und Kanälen um den Palazzo umgesehen und waren bis in den Hof vorgedrungen. Leo hatte sich sogar Zugang zum Haus verschafft und die drei Stockwerke mit den hohen Decken und den großzügigen Sälen erkundet. Danach hatten sie bis zum Morgengrauen auf ihrem Dachboden beisammengesessen und ihre Taktik besprochen. Es durfte nichts schiefgehen!
»Luciano«, sagte Alisa plötzlich. »Kannst du dich in eine Fledermaus wandeln?«
Er zögerte. »Ja, normalerweise schon.«
»Tu es!«
»Was, jetzt?« Er sah sie irritiert an, und auch die anderen richteten ihre Blicke fragend auf Alisa.
»Ja!«
Luciano trat einen Schritt zurück. Man sah in seiner Miene, wi e er sich konzentrierte und sich anstrengte, genug Energie zu sammeln, um die Wandlung zu vollziehen. Dann begannen die Nebel um ihn herum zu kreisen, und wo Luciano gerade noch gestanden hatte, erhob sich eine Fledermaus und flatterte um ihre Köpfe.
»Wunderbar«, kommentierte Alisa. »Wenn wir den Larvalesti und ihrem teuflischen Pulver fernbleiben, können wir uns wandeln.
Weitere Kostenlose Bücher