Die Erben der Nacht - Pyras
dem Kutscher drei Sou. Während er sich seine Handschuhe wieder überstreifte, sprang der Kutscher vom Bock und riss den Wagenschlag auf.
»Ich wünsche den Herren einen vergnüglichen Abend.«
»Höflicher Kerl, dieser Franzose«, sagte Bram, der sich bei seinem Freund einhakte.
»Wir haben Karten für zehn Francs das Stück im Parkett beim Pöbel von Paris«, beschwerte sich Oscar.
»Sei unbesorgt, ich vermute, dass es den Pöbel nicht ins neue Opernhaus zieht. Der wird sich eher in den Schauspielhäusern herumtreiben, in den Vergnügungslokalen am Pigalle oder bei den Weinschenken vor der Zollschranke.« Oscar brummte nur.
»Und außerdem war keine Loge mehr zu haben, wie du weißt. Und ehrlich gesagt finde ich, dass die Preise schlichtweg unverschämt sind. Wusstest du, dass sie fünfundzwanzigtausend Francs Jahresmiete für eine Loge verlangen?«
»Zur Gesellschaft zu gehören, war noch nie billig. Man muss wissen, was es einem wert ist«, sagte Oscar, von dem sein Freund wusste, dass er sich ständig in Geldnöten befand und für den Schuldenmachen schon zur Gewohnheit geworden war.
Die beiden Iren ließen sich von der Menge ins große Vestibül treiben, von dem aus sich der Treppenaufgang erhob.
»Bei Gott!«, rief Bram. »Ich habe ja schon viel über die Pracht des Opernhauses von Garnier gehört und die Fassade war bereits beeindruckend, aber das ist jenseits aller Vorstellung!«
Selbst Oscar ließ sich zu einem: »Ja, es wird seinem Ruf gerecht« hinreißen.
Dieser Aufgang war nicht nur eine Treppe, um in das nächste Stockwerk zu gelangen. Der Raum mit seinen geschwungenen Stufen und Balustraden, Kronleuchtern und Säulen aus Marmor jeder erdenklichen Farbschattierung, den verspielten Kapitellen und der bemalten Kuppel, durch deren gläserne Mitte der Nachthimmel schimmerte, war selbst eine Bühne, auf der das Schauspiel der Gesellschaft Abend für Abend aufgeführt wurde.
Die beiden Herren im eleganten Frack erklommen bedächtig die Marmorstufen und ließen die Blicke schweifen. Oben angekommen bestaunten sie die Mosaiken in der Vorhalle und traten dann ins große Foyer, dessen Goldglanz - von den Spiegeln und Lüstern vervielfacht und verstärkt - sie blendete und ihnen einen weiteren Ausruf des Erstaunens entlockte.
»Nun verstehe ich, warum man den Entwurf eines so jungen
A rchitekten wählte«, sagte Oscar. »Er hat das Entscheidende begriffen.«
»Und das wäre?«, wollte Bram wissen.
»Dass die Herren und Damen der Gesellschaft nicht in die Oper gehen, um der Sopranistin X zu lauschen oder dem Tenor Y Beifall zu spenden oder die Ballettratten durch das Opernglas zu mustern - ich gebe zu, das auch, aber das ist eher eine schöne Nebensache. Sie kommen, um sich selbst zu inszenieren. Sehen und gesehen werden, mein Freund, und dazu braucht man einen angemessenen Rahmen!«
Sie schlenderten noch eine Weile auf und ab und beschlossen dann, ihre Plätze aufzusuchen. Der erste Akt hatte längst begonnen und die Handlung nahm ihren dramatischen Lauf. Bram rutschte neben Oscar auf einen der mit Samt bezogenen Stühle.
»Dunkelrot, mein Freund, siehst du das? Nicht blau, wie man es allerorts in den Opernhäusern sieht. Garnier traut sich was, und ich sage dir, das wird Mode machen.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Bram über den schmetternden Sopran hinweg.
Oscar zog sein Opernglas hervor und ließ den Blick über die besetzten Logen wandern, aus denen - neben ihren befrackten Begleitern - von farbiger Seide umrankte und mit Juwelen geschmückte Dekolletés herableuchteten.
»Die Farbe schmeichelt dem Teint! Sieh dir die Pracht nur genauer an.«
Bram unterdrückte ein Lachen und wandte seine Aufmerksamkeit dem Halbrund der fünf Stockwerke aufragenden Logen zu. Schmunzelnd gab er seinem Freund recht. »Sehr vorteilhaft, ja, das muss ich sagen.«
Plötzlich stieß Oscar einen unterdrückten Fluch aus.
»Was ist?«, erkundigte sich Bram.
»Da, siehst du das?« Anklagend deutete er zu der fünften Loge im ersten Rang hinauf. »Leer! Kein einziger Besucher zu sehen. Und uns haben sie gesagt, es seien keine Logenplätze mehr zu haben. Es ist ein Skandal!«
»Beruhige dich, Oscar, von hier unten im Parkett kann man die Bühne viel besser sehen als von den Logen dort an der Seite.«
»Ha, als ob es darauf ankäme!«, widersprach Oscar, der sich nicht beruhigen wollte. »Du bist unverbesserlich, mein Freund. Aber ich sage dir, das wird ein Nachspiel haben. Nach der Pause sitzen wir dort
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