Die Erben der Nacht - Pyras
oben!«
Bis der Vorhang zur ersten Umbaupause fiel, hatte Bram die Sache längst vergessen. Gut gelaunt folgte er Oscar ins Foyer.
»Was machen wir so lange? Sie werden wohl weit mehr als eine halbe Stunde mit den Aufzügen brauchen, bis es weitergeht. Ich habe gehört, in dem Salon drüben servieren sie Eis!«
»Für so etwas habe ich jetzt keine Zeit«, erwiderte Oscar kurzangebunden. »Ich muss mit dem Direktor sprechen.« Er ignorierte Brams halbherzige Proteste und schleppte ihn zur großen Treppe, wo Olivier Halanzier-Dufresnoy gerade mit einer jungen Dame am Arm erschien. Oscar überschüttete den verdutzt dreinschauenden Direktor des Opernhauses mit einer kunstvollen Beschwerderede. Wie ein Fisch auf dem Trockenen öffnete und schloss der Direktor den Mund. Ja, Oscars Talent, mit Worten umzugehen, musste Bram neidlos anerkennen. Darin war sein Freund ein Meister.
»Und? Würden Sie nun so freundlich sein, uns die Loge fünf zu überlassen?«, half Oscar nach, nachdem der Direktor noch immer nach Worten rang.
»Es tut mir schrecklich leid, aber nein, das ist völlig unmöglich, meine Herren.«
»So? Unmöglich? In einer leeren Loge Platz zu nehmen?« Oscar legte noch einmal los, während der Direktor sich vor Verlegenheit wand und sich die Schweißperlen von der Stirn tupfte.
»Sie ist vergeben, verstehen Sie, für alle Aufführungen«, würgte der Direktor hervor.
»Vergeben? An wen vergeben? Jedenfalls an jemanden, der durch Abwesenheit glänzt. Meinen Sie, der Eigentümer kommt noch zum zweiten oder dritten Akt? Nun gut, dann versprechen wir, uns höflich zurückzuziehen und ihm seinen Platz zu überlassen, sollte er noch auftauchen.«
»So einfach ist das nicht«, widersprach der Direktor, dessen Gesicht nun eine beunruhigend grünliche Farbe angenommen hatte. »Der Eigentümer würde sehr erzürnt sein. Er gestattet es nicht. Heilige Jungfrau, es wäre fürchterlich, sollte er Sie in seiner Loge finden. Und er würde Sie finden. Ihm entgeht nichts, was in diesem Theater geschieht, rein gar nichts.«
Bram fürchtete, der Mann müsse jeden Augenblick in sich zusammensinken und die herrliche Treppe hinunterstürzen. War er etwa krank? Anders konnte sich Bram diese heftige Reaktion nicht erklären.
Auch Oscar starrte den Direktor mit gerunzelter Stirn an. »Ich habe ja schon viele seltsame Zeitgenossen getroffen, aber dieser hier ist etwas Besonderes«, raunte er seinem Freund zu.
Plötzlich mischte sich die Dame in das Gespräch der Männer ein. »Sie gehört dem Phantom!«
»Wie bitte?«, erkundigten sich Bram und Oscar gleichzeitig. Der Direktor stöhnte und wankte.
»Ja, das weiß hier in der Oper jeder. Unser Operngeist, das Phantom der Oper, verlangt, dass diese Loge jederzeit für ihn bereitsteht, um sich die Aufführungen von dort anzusehen.«
»Der Geist des Hauses!«, rief Oscar empört. »Das ist die wildeste Geschichte, die man mir jemals aufgetischt hat. Herr Direktor …«
Doch der geplagte Herr verschwand - schneller, als Bram es ihm zugetraut hätte - mit der Dame am Arm in der nun dichter werdenden Menge.
»Hast du so etwas schon einmal erlebt, mein Freund? Bram - he, was ist mit dir? Du siehst aus, als hättest du eben diesen Geist gesehen!«
Bram Stoker schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Noch nicht! Aber dieses Gespräch gibt den Gerüchten, denen ich gefolgt bin, Nahrung. Es scheint dieses Phantom wirklich zu geben und ich werde es aufspüren!« Strahlend hakte er sich bei seinem Freund unter. »Oscar, komm mit mir. Ich werde dir eine Portion dieser neumodischen Eiscreme spendieren! Wie gut, dass wir zusammen nach Paris gereist sind.«
Oscar Wilde schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich mir über deinen Gesundheitszustand Sorgen machen soll, mein Lieber. Du leidest unter einer Besessenheit.« Dennoch ließ er sich in den Glaciersalon führen und bestellte die größte Eisportion, die es gab. Süßigkeiten taten ihm fast so gut wie schöne Worte.
IM BANN DER GEZEITEN
An diesem Abend begann der Unterricht. Alisa hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht, wer in Hamburg ihre Ausbildung übernehmen würde. Natürlich sprach Dame Elina einige einleitende Worte. Dann stellte sie ihren Vetter Jacob vor, die Servientin Marieke, den Altehrwürdigen Siebelt und zu Alisas Überraschung auch Hindrik. Sie hob die Augenbrauen und warf ihm einen fragenden Blick zu. Was würde er ihnen beibringen?
»Lass dich überraschen«, formulierte er lautlos die
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