Die Erben der Nacht - Pyras
interessant.«
»Beeindruckend«, hauchte Raymond, der ein wenig zitterte.
Alisa drehte die Zehe, die Dame Elina in ihre Richtung geworfen hatte, in den Fingern. »Das ist doch nur ein alter Aberglaube, dass Knoblauch Vampire fernhält. Ich finde den Geruch nicht gerade angenehm und den der Blüten mag ich noch weniger, aber warum sollte es mir schaden?«
Ivy näherte ihren Zeigefinger der Knoblauchzehe auf dem Tisch, zuckte aber im letzten Moment zurück.
»Ja, warum sollte es uns schaden? Vermutlich aus einem ähnlichen Grund wie Weihwasser und Hostien noch vor wenigen Monaten.«
»Aberglaube!«, bestätigte Alisa.
»Sehr wirksamer Aberglaube«, stöhnte Malcolm, der von seinem Stuhl aufgesprungen war und sich mit den anderen beiden Vyrad an die Wand drückte, während Dame Elina lächelnd vor seinem Tisch stand, eine Knoblauchknolle in der ausgestreckten Hand.
Sie blieb einige Augenblicke so stehen. Vielleicht um sich an dem Unbehagen des Vyrad zu weiden, der ihre Autorität infrage gestellt
hatte. Wenn es so war, ließ sie sich den kleinen Triumph allerdings nicht anmerken. Endlich nickte sie Hindrik zu, der die Knoblauchzehen einsammelte und in seiner Tasche verstaute. Raymond schauderte und setzte sich nur zögerlich wieder auf seinen Stuhl. Nun hatte Dame Elina die ungeteilte Aufmerksamkeit der jungen Vampire.
»Glaubt mir, das ist nicht der Einzige, wenn auch der am weitesten verbreitete Aberglauben, mit dem die Menschen lange genug Vampire in Schach gehalten haben.«
»Gegen was könnt Ihr uns noch abhärten?«, fragte Fernand eifrig.
Dame Elina ließ wieder ihr feines Lächeln sehen. »Wie spät ist es?« Ihr Blick wanderte zu der schon etwas ramponierten Standuhr in der Ecke, deren Pendel jedoch noch immer schwangen und die Zeiger antrieben. »Hm«, sie überlegte.
»Noch zwei Stunden bis zum Gezeitenwechsel«, sagte Hindrik, der offensichtlich begriff, woran sie dachte.
»Das ist gut.« Dame Elina nickte Hindrik zu. »Nimm unsere Schüler mit zum Wandrahm. Dort an der Brücke können sie ihre Kräfte trainieren. Danach haben sie vielleicht mehr Muse, den Dingen zu lauschen, die Marieke ihnen zu sagen hat.«
»Was wollen wir am Wandrahm denn üben?«, fragte Tammo seine Schwester, als sie zusammen den Speicher verließen und die Treppe in die Halle hinunterstiegen.
»Lass mich mal überlegen. Wie man die nach einem Tag harter Arbeit wunderbar nach Schweiß riechenden Menschen jagt, die dort so schön dicht gedrängt leben?«
Tammo musterte sie misstrauisch. »Du nimmst mich auf den Arm!«
»Ja, Bruderherz. Denk doch mal nach. Wir werden die Brücke überqueren!«
Tammo starrte sie verdutzt an, während sie hintereinander auf die Straße traten, die am Ufer entlang bis zur Kehrwiederspitze führte und auf der anderen Seite der Insel im Strom der Elbe wieder zurück.
»Einfach nur die Brücke überqueren? Und was soll das?«
»Wirst du schon sehen«, gab sie zurück und fragte sich, ob ihr Bruder es tatsächlich vergessen haben konnte. Vielleicht war es ihm
als dem jüngsten Mitglied des Clans so selbstverständlich, dass er keinen Gedanken mehr daran verschwendete. Obwohl es die schwerste Hürde gewesen war, die die Familie zu überwinden hatte, als sie sich in den beiden Kaufmannshäusern am Binnenhafen niederließ.
Sie folgten Hindrik, den Schluss bildete Jacob, der ihnen mit ein wenig Abstand folgte und sich immer wieder aufmerksam umsah. Nicht dass die Vampire hier im Herzen Hamburgs etwas zu befürchten gehabt hätten. Die Erfahrungen in Rom und Irland hatten sie jedoch gelehrt, stets vorsichtig zu sein.
Plaudernd gingen die Erben durch die Gassen und bemerkten kaum, wie die Umgebung von den repräsentativen Häusern der Kaufmannschaft in die engen und schmutzigen Quartiere armer Leute überging, die hier in der Nähe des Hafens den täglichen Kampf um die paar Münzen schlugen, die sie benötigten, um ihr ewig gleiches, kärgliches Leben zu fristen. Nur Ivy blieb ein paar Mal stehen und ließ den Blick an den geschlossenen Häuserfronten hinaufwandern. Hohe, eckige Tore ließen einen Eindruck der Hinterhöfe erhaschen, um die im gleichen trostlosen Grau weitere Häuser emporsprossen.
»So viele arme Menschen!«, sagte Ivy und sog die von Küchenausdünstungen und Schweiß durchdrängte Luft ein, vermischt mit dem Gestank aus den Latrinegruben. Aus den unteren Geschossen wehte ihnen der Geruch von brackiger Feuchte entgegen. Die Wohnungen waren vor wenigen Wochen bei einer
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