Die Erben der Nacht - Pyras
hauchte Latona einen Kuss auf die kalte weiße Wange, dann ließ er sie sanft in die Kissen gleiten. Noch immer quoll Blut aus den beiden Bisswunden an ihrem Hals und rann in die weiße Spitze ihres Kleides.
»Und nun geh langsam zur Tür und schließe sie hinter dir.«
Endlich fand Malcolm seine Sprache wieder. »Du wirst mich nicht vernichten?«
»Nur wenn du mich dazu zwingst. Ich habe Ivy leichtfertig geschworen, niemandem ihrer Art etwas anzutun. Ich möchte dieses Versprechen nicht brechen.«
Malcolm wagte es, einen Schritt vom Bett wegzutreten und sich dann umzudrehen, um sich diesen erstaunlichen Menschen näher anzusehen.
»Bram Stoker, nicht wahr?«
Der Mann nickte. Er ließ den Degen sinken, kam ans Bett und untersuchte Latona, die noch nicht wieder zu sich gekommen war. Wie leicht hätte Malcolm nun über ihn herfallen können. Noch ehe er seine Absicht bemerken könnte, würde er bereits die Zähne in seinem Hals spüren. Keine Chance zu entkommen! Und dennoch rührte sich Malcolm nicht vom Fleck und sah stattdessen zu, wie Bram nach Latonas Puls tastete.
»Was ist mit ihr?«, erkundigte er sich.
»Sie ist schwach, aber sie lebt. Ich denke, sie wird durchkommen«, gab Bram Stoker Auskunft.
Malcolm spürte Erleichterung wie eine Welle über sich hinwegfluten. Wie um Bram Stokers Worten Gewicht zu verleihen, bewegte sich Latona und öffnete die Augen. Erst irrte ihr Blick verwirrt
umher, dann blieb er an Bram Stoker und kurz darauf an Malcolm hängen. Die Erinnerung kehrte zurück, denn ihre Hand fuhr an ihren Hals. Mit verstörtem Blick sah sie auf das Blut an ihren Fingern.
»Du wirst mich nicht mit dir nehmen, Malcolm?« Ihre Stimme klang verzweifelt.
Der Vampir schüttelte den Kopf. »Nein, dein Beschützer hat entschieden, dass du leben sollst. Er wird sich um dich kümmern, nicht wahr? Schwöre es! Eher werde ich nicht gehen.«
Bram Stoker starrte den Vampir voller Staunen an. »Es gibt wohl noch viel über euch zu lernen«, sagte er, doch dann leistete er den Schwur.
Latona schluchzte. »Werde ich dich nun nie wieder sehen?«
Malcolm schenkte ihr ein Lächeln. »Vielleicht solltest du zuerst Paris verlassen und wieder zu Kräften kommen. Du weißt, wo du mich finden kannst. In London! Wenn du dich irgendwann dazu entschließt, dann solltest du dieses Mal auf die Begleitung von Vampirjägern verzichten. Hinterlass mir eine Nachricht am Albert Memor ial und ich werde zu dir kommen.«
Er warf ihr eine Kusshand zu. Sie lächelte unter Tränen. Dann verließ Malcolm das Zimmer, schloss leise die Tür hinter sich und überließ Latona ihrem Retter.
EPILOG: DER SCHATTEN
Eigentlich hatte er nach seinem letzten, vergeblichen Versuch aus Paris abreisen wollen, doch dann schob er seine Rückkehr Nacht für Nacht auf. Er beobachtete sie von fern - Ivy und ihre Freunde und den Wolf, der nicht von ihrer Seite wich.
Nach dem Tod des Vampirjägers und der Rückkehr des verschleppten Pyras zu seinem Clan kehrte Ruhe in den unterirdischen Labyrinthen von Paris ein. Die Menschen hatten für einige Zeit genug von ihrer verborgenen Stadt im Finstern und ließen sich nicht mehr in den Gängen blicken. Auch ihr ursprüngliches Vorhaben, das Phantom einzufangen, verschoben sie auf unbestimmte Zeit. Seigneur Thibaut und die Altehrwürdigen erholten sich nach und nach von den Folgen der Quecksilbervergiftung und konnten sich schon einige Nächte später wieder selbst auf die Jagd begeben. Auch die Servienten der Erben erlangten ihre Kräfte zurück und waren bald wieder in der Lage, ihre Schützlinge bei ihren Übungen zu begleiten, denn bereits in der folgenden Nacht bestand Seigneur Lucien darauf, die Arbeit der Akademie wieder aufzunehmen.
Der Schatten hielt sich in einem nahen Schacht verborgen, als die jungen Vampire an ihm vorbeizogen. Tammo, der Jüngste der Vamalia, maulte lautstark, dass ihm die aufregenden Nächte zuvor mehr zugesagt hätten und er keinen Wert auf weiteren Unterricht lege. Seine Schwester Alisa dagegen betonte, wie froh sie sei, Paris nicht ohne weitere Lektionen wieder verlassen zu müssen. Der Schatten sah den Dracas Franz Leopold, der dicht hinter ihr ging, den Blick nachdenklich auf ihren wippenden Pferdeschwanz geheftet, der vom Schein einer fernen Lampe rötlich schimmerte. Hinter ihm lief der weiße Wolf, der aufmerksam in Richtung des Schachts witterte, in dem sich der Schatten verbarg. Und dann kam Ivy für einen Augenblick in sein Sichtfeld. Neben ihr ging Luciano, der
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