Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
Ahnen das Mondlicht sinkt
Und die düster schweigenden Mauern durchdringt,
Dann strahlt es von fern wie ein Glorienschein;
Es gleißt, aber wärmt nicht, ist kalt wie ein Stein.
Doch die Sonne erhelle die jüngere Zeit;
Sie leucht’ dem Geschlecht, das dem Tode geweiht,
Wenn im Morgengrauen die Sterne erbleichen
Und lange Schatten die Trümmer umschleichen.
Bram lehnte sich in seinem hochlehnigen Sessel zurück und schloss die Augen. » Ja, ein wundervolles Gedicht. Wenn seine Worte erklingen, dann sehe ich dich wieder in Irland auf diesem Friedhof in den Ruinen der Abbey. Dieses Gedicht scheint sie genau zu beschreiben.«
Er öffnete die Lider und sah Ivy mit verträumtem Blick an. Diese lächelte und schüttelte den Kopf.
» Aber nein. Ich weiß nicht, ob Lord Byron je durch Irland gereist ist und Gedichte über unsere verfallenen Klöster verfasst hat. Ich müsste ihn fragen. Dieses jedenfalls beschreibt Newstead Abbey .«
Bram nickte. » Ja, die Heimat Byrons. Ich habe es leider nie besucht. Vielleicht sollte ich es einmal tun.«
Er hatte sich eine Weile mit dem Dichter beschäftigt. Nicht nur mit seinen Versen. Noch mehr mit seinem Leben und seinem rastlosen Streben nach Heldentum und Ruhm. » Die Byrons haben die Ländereien der Abbey von Heinrich VIII . erhalten, als dieser sich zum Oberhaupt seiner Kirche ernannte und alle katholischen Güter für die Krone annektierte. Trotz der geradezu sprichwörtlichen Verschwendungssucht der Lords blieb Newstead Abbey im Besitz der Familie, bis unser Dichter hier zu ihrem Oberhaupt wurde. Er hat das Anwesen an einen Freund verkauft. Ich vermute, seine finanzielle Lage bot keinen anderen Ausweg. Jedenfalls kann ich mir nach der Lektüre der Schriften über sein Leben nicht vorstellen, dass er leichtfertig den Sitz der Familie aufgab, den sie Hunderte Jahre besessen hat. Es muss eine Schmach für ihn gewesen sein, so stolz, wie er auf seine Ahnenreihe war. Seine Herkunft und sein Titel waren ihm stets sehr wichtig.«
Ivy zog ein schiefes Lächeln. » Vielleicht frage ich ihn bei Gelegenheit, wenn es dich interessiert. Wobei er mir vermutlich nicht die Wahrheit sagen wird. Über Geld– oder noch schlimmer, über Geldnöte– spricht man in dieser Gesellschaft nicht.«
Bram lachte über Ivys offensichtlichen Scherz. » Oh ja, und frage ihn auch gleich, ob die Weigerung des Dekans von Westminster, ihn in Westminster Abbey beisetzen zu lassen, ihn verärgert hat.«
Ivy sah ihn nachdenklich an. » Es hat ihn ganz sicher verärgert, und es wäre wohl ein wenig taktlos, ihn das zu fragen– aber sicher nicht taktloser, als ihn auf seine Geldschwierigkeiten anzusprechen.«
Bram runzelte die Stirn. Für einen Scherz ging das irgendwie zu weit, doch er konnte sich nicht vorstellen, dass… Nein, das war nicht möglich. Er ließ die Sache auf sich beruhen, da Ivy das Thema wechselte.
»Hast du etwas von Latona gehört?«
Bram blickte betrübt drein. » Ich habe ihr schon dreimal geschrieben, doch bisher keine Antwort erhalten. Vielleicht waren meine Briefe zu nichtssagend. Wie könnte ich ihr etwas von dem, was uns wirklich bewegt, schreiben, wenn womöglich eine ihrer Lehrerinnen den Brief durchliest, ehe sie ihn erhält?«
» Dann weißt du nicht, wie es ihr dort geht?«
Er seufzte schwer. » Das weiß ich auch, ohne dass ich Post von ihr bekomme. Sie würde mir genauso wenig die Wahrheit schreiben, wie ich es in meinen Briefen tat. Es geht ihr schlecht! Sie leidet und kommt mit den anderen jungen Mädchen nicht zurecht, die ihr so gar nicht gleichen. Deren Leben in ruhigen und behüteten Bahnen verlaufen ist. Auch ist es lange her, dass sie zur Schule gegangen ist. Wobei die Zeit des Unterrichts vermutlich noch zu den angenehmeren Stunden gehört, denn sie hat einen wachen Geist und ist belesen, trotz der Jahre, die sie mit ihrem Onkel auf Reisen zugebracht hat.«
» Du machst dir viele Gedanken über Latona«, stellte Ivy fest. » Vielleicht zu viele? Sind es nicht auch deine eigenen Erfahrungen und Schwierigkeiten, die du in deiner Jugend hattest, die deine Befürchtungen nähren und ein solch düsteres Bild zeichnen?«
Bram hob die Schultern. » Mag sein. Doch ich glaube, Latona sehr gut kennengelernt zu haben. Solch außergewöhnliche Situationen können einem einen Menschen in kurzer Zeit näher bringen als ein jahrelanges ruhiges Leben, das man nebeneinander führt.«
» Das ist richtig. Aber du solltest dich nicht in Vorwürfen selbst zerfleischen.
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