Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
berührt sie nicht und gebt acht, dass ihr nicht in ihr Blut tretet, das, wie ihr riechen und sehen könnt, reichlich geflossen ist.«
Die Erben schoben sich näher und beugten sich vor.
» Was seht ihr?«, fragte die Lady. » Versucht wie ein Kriminalbeamter zu denken, dessen Aufgabe es ist, den Hergang des Mordes zu rekonstruieren und den Täter zu finden.«
Die Tote war eine dicke Frau von knapp vierzig Jahren. Sie hatte sich sicher schon eine ganze Zeit lang nicht mehr gewaschen, und auch ihre Röcke, die nach oben geschoben waren und den Blick auf den misshandelten Unterleib freigaben, waren fadenscheinig, geflickt und schmutzig. Sie war wahrscheinlich hier aus diesem Viertel, und wenn sie nicht in diesem Haus wohnte, dann hatte sie vermutlich ihre Arbeit an diesen finsteren Ort geführt.
» Was bedeuten würde, dass sie in Gesellschaft eines Mannes war«, schloss Leo. » Falls sie eine Prostituierte ist.«
» Die meisten Frauen hier in der Gegend verdienen sich zumindest ab und zu auf diese Weise etwas dazu, wenn sie ihre Kinder nicht satt bekommen oder der Durst auf Gin sie in die Pubs treibt. Gin ist die billigste Art sich zu betäuben, Hunger und Kälte zu vergessen, aber auch Körper und Geist zu ruinieren«, erläuterte Gordon.
» Das war vermutlich ihr Leben, doch kommen wir zu ihrem Tod«, fuhr Lady Margaret fort.
» Sie wurde erstochen, mit einer langen spitzen Klinge«, sagte Fernand.
» Ein Messer oder so etwas wie ein Bajonett«, fügte Alisa hinzu, die sich an die Waffen der Wachen im Tower erinnerte. » Wobei es mir scheint, als habe der Mörder zwei unterschiedliche Waffen verwendet.«
» Der Mörder empfand große Wut auf sie oder– was mir wahrscheinlicher erscheint– auf Frauen ganz allgemein«, behauptete Leo. » Bei dieser Art von Verletzungen: Ich kann mehr als zwei Dutzend Einstiche vor allem an der Kehle und im Unterleib sehen. Wenn der Mörder sie lediglich zum Schweigen hätte bringen wollen, dann hätte ein Stich ins Herz genügt oder ein Schnitt über die Kehle. So viele Stiche sprechen von leidenschaftlichen Gefühlen, wenn auch im zerstörerischen Sinn. Und dass er ihren Unterleib so traktiert hat, lässt mich vermuten, dass sich sein Zorn gegen die Weiblichkeit richtete.«
» Ein gutes Argument«, lobte die Vyrad. Sie verstummte und lauschte.
» Rasch die Treppe hinauf! Da kommt jemand.«
Auch die Erben konnten die müden Schritte eines Mannes hören, der nun begann, die Stufen zu erklimmen. Die Vampire zogen sich ein wenig zurück. Sie mussten nicht fürchten, in der Dunkelheit entdeckt zu werden. Gespannt warteten sie darauf, wie der Mann auf den Fund vor seiner Wohnungstür reagieren würde. Er musste ja geradezu über den Körper der Frau stolpern.
Es war gegen halb vier, als der Droschkenkutscher Alfred George Crow nach Hause kam. Alisa konnte es nicht lassen, in seinen Geist einzudringen, um keinen seiner Gedanken zu versäumen, doch er dachte nur an sein Bett und wie müde er nach diesem langen Arbeitstag war. Vage nahm er den Umriss eines Körpers auf dem Absatz wahr und stieg über ihn hinweg. Den Blutgeruch bemerkte er nicht. Er dachte nur, wie vielen es hier in der Gegend noch schlechter ging als ihm, dass sie keinen anderen Platz als ein eisiges Treppenhaus fanden, ihren Ginrausch auszuschlafen. Crow öffnete die Tür zu seiner winzigen Wohnung und schloss sie dann wieder hinter sich.
Lady Margaret schüttelte ein wenig verärgert den Kopf. » Wir werden doch hoffentlich nicht bis zum Morgen warten müssen, bis die Polizei eintrifft?« Sie sah sich um. » Dies ist kein geeigneter Ort, den Kriminalinspektor im Licht des Morgens unerkannt bei der Arbeit zu beobachten.«
» Dann schaffen wir die Tote eben hinunter in den Hof oder auf die Straße«, schlug Gordon vor, doch Lady Margaret lehnte ab.
» Wir wollen uns nicht einmischen und auch nichts verfälschen. Warten wir noch ein wenig, vielleicht haben wir Glück und es taucht bald noch ein Bewohner auf, der Alarm schlägt.
Sie mussten noch einmal fast zwei Stunden warten, bis sich erneut das Kommen eines Menschen ankündigte. Dieses Mal allerdings von oben. Die Vampire hasteten an der Tür vorbei die steile Stiege zum Dachboden hinauf, als sie den Klang der Schritte in der Kammer vernahmen und die Geräusche, die davon zeugten, dass ein Mensch sich fertig machte, sein Heim zu verlassen, um zur Arbeit zu gehen. Es war der Hafenarbeiter John Sauders Reeves, der die Tür öffnete und die Treppe hinablief,
Weitere Kostenlose Bücher