Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
bedrückendes Gefühl stieg in ihm auf, und er fühlte sich, als wäre er alleine auf der Welt. Und als würde irgendetwas Bedrohliches in den Schatten verborgen lauern.
So falsch lag er mit seinem Gefühl nicht. Ein riesiger, grauer Wolf machte sich an Deck auf den Weg zum Bug.
Der Matrose schob zaghaft die Tür zur Kajüte des Kapitäns auf. Er musste nicht lange suchen. Das Logbuch lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Sein Blick überflog die letzte Seite. Dann las er sie noch einmal, langsamer, und er spürte, wie das Grauen ihm den Rücken emporkroch und seine Nackenhaare sich aufstellten.
Logbuch der Odysseus, Freitag, der 18. Dezember 1881.
Kapitän Jackson
Jetzt bin ich alleine. Der einzige Überlebende an Bord. Obgleich Matrose White und ich beschlossen hatten, wach zu bleiben, und uns gegenseitig nicht aus den Augen zu lassen, muss ich in den frühen Morgenstunden eingenickt sein. Die Anstrengung und die Furcht verlangten ihren Tribut. Seit zwei Wochen Sturm und eine stetig schrumpfende Mannschaft! Endlich, als wir den Kanal erreichten, legte sich der Wind, und wir fuhren in ruhigeres Gewässer ein. Doch sobald die Aufmerksamkeit nachlässt, kommt die Erschöpfung.
Ich kann nicht lange geschlafen haben, doch als ich erwachte, war White verschwunden. Ich ahnte, dass ich ihn nicht lebend finden würde. Als die Sonne aufging, durchsuchte ich das ganze Schiff nach ihm.
Ich fand White am Fuß des Niedergangs vor der Kombüse liegen, die Kehle blutig zerfetzt, wie von einem wilden Tier gerissen. Und doch wirkte sein Körper so blutleer, als sei er an der Schwindsucht verstorben. Das Grauen stand noch in seinem starren Blick. Ich konnte auch für ihn nicht mehr tun, als ihn ehrenhaft seinem Seemannsgrab zu übergeben.
Die Sonne versinkt. Vermutlich werde ich sie nicht wiedersehen. Ich kann bereits die Mündung der Themse im Dunst vor mir erkennen. Ich werde versuchen, ein Segel zu setzen. Dann binde ich mich ans Steuerrad fest und nehme Kurs auf London. Ob ich noch am Leben sein werde, wenn die Odysseus in den Hafen einläuft? Ich wage es nicht zu hoffen. Die Nacht bricht herein. Möge Gott meiner Seele gnädig sein.
Kapitän Thomas Jackson
*
Die letzte Stunde der Nacht war angebrochen. Der zottige Wolf blieb für einen Augenblick am Bug stehen, reckte die Nase in die Luft und witterte.
Willkommen in London, Meister.
Der Wolf wandte den Kopf. Seine gelben Augen suchten den Pier ab, bis sie an einer zierlichen Gestalt mit langem Haar hängen blieben, die silbern im nassen Grau des frühen Morgens schimmerte. Sie stand hoch aufgerichtet an der Kante eines flachen Daches, das zu einer Lagerhalle oder etwas Ähnlichem gehörte. Die türkisfarbenen Augen suchten über die Entfernung hinweg die seinen.
Kommt an Land. Es ist alles vorbereitet. Ich habe mit Eurem Bevollmächtigten Jonathan Harker gesprochen. Das Haus ist bereit. Folgt einfach meiner Spur, ich habe mich noch heute Nacht vergewissert, dass Ihr alles zu Eurer Zufriedenheit vorfinden werdet. Wenn Ihr heute Abend erwacht, werdet Ihr Eure Kisten in der Halle vorfinden. Ihr braucht Euch um nichts zu kümmern. Genießt Londons pulsierendes Leben, doch haltet Euch von den Temple Inn Courts und den Vyrad fern! Noch zwei Nächte bis zur großen Finsternis! Ich werde Euch rufen, wenn alles bereit ist.
Der Wolf schien Ivy zuzunicken, dann sprang er mit einem riesigen Satz an Bord des Schiffes, das die Odysseus gerammt hatte. Noch ehe ihn jemand entdeckt hatte, war er schon auf der anderen Seite und wieder von Bord. Er rannte über den Pier und verschwand zwischen den Kisten und Fässern, die sich vor einem der Lagerhäuser stapelten.
Ivy sah ihm nach. Sie starrte noch eine ganze Weile auf die Stelle, wo der Meister in seiner Wolfsgestalt ihrem Blick entschwunden war. Sie konnte seine Anwesenheit immer noch spüren und musste sich zusammenreißen, dass sie nicht schauderte.
Der letzte Akt hat also begonnen, dachte sie, und sie verbot es sich, darüber nachzugrübeln, ob alles so laufen würde, wie sie es geplant hatte. Allzu schnell schon würde die Nacht der Wintersonnwende anbrechen und es würde sich zeigen.
Ivy rief die Nebel und flog als Fledermaus zum Temple Inn Court zurück.
*
Annie Chapman blieb stehen. Hatte sie bemerkt, dass ihr jemand folgte? Vermutlich. Der Mann war nun kaum mehr zehn Schritte hinter ihr. Langsam wandte sich die Frau um. Latona fuhr zurück und drückte sich in den Durchgang, der zur Eingangstür des Hauses zu ihrer Rechten
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